»Scarlett, warte !«, höre ich die erschöpfte Stimme meiner Freundin Victoria hinter mir, doch ich laufe einfach weiter. Das Gras ist noch nass vom letzten Regen und auch von den Bäumen tropft noch immer die kalte Flüssigkeit.
Als ich schließlich am Ende des Waldstücks ankomme, bleibe ich stehen und schaue mich um. Der Himmel ist in ein wunderschönes Rot getaucht, welches mich komplett in seinen Bann zieht. Die Sonne zeigt ihre ersten Strahlen am Horizont und der Geruch nach frischem Gras zeigt mir erneut, dass es eine gute Idee war, jetzt hierher zu kommen.
Allerdings bin ich wohl gerade die Einzige, die das denkt.
Noch immer höre ich das Schnaufen meiner besten Freundin, welche plötzlich neben mir auftaucht. Ich beobachte sie belustigt, als sie ihre Hände in ihre Knie stemmt und nach Luft hechelt.
Ihre langen, blonden Haare hängen ihr dabei total verwuschelt vor dem Gesicht, sodass ich sie nicht direkt ansehen kann. Wir sind nicht einmal einen Kilometer gelaufen und doch scheint sie völlig fertig zu sein.
»Wirklich Scar, wenn ich irgendwann noch an Überanstrengung sterbe, dann ist das deine Schuld. Und glaube mir, ich werde als Geist zurück kommen und dich durch die ganze Stadt jagen«, tadelt sie mich, als sich ihr Atem wieder etwas beruhigt hat.
»Dafür hast du doch gar nicht die ausreichende Ausdauer«, lache ich und wende mich wieder dem Hügel zu, welcher sich vor uns erstreckt. Er ist nicht sonderlich hoch und doch hat man von oben eine viel bessere Aussicht.
Schon oft bin ich bei Dunkelheit hier gewesen und habe einfach nur in den Himmel gestarrt und versucht die Sterne zu zählen. In Büchern habe ich schon viel über die Sterne und ihre Bedeutungen gelesen. Ich bin jedes Mal auf's neue davon begeistert und überrascht, was manche Menschen in den Sternen lesen konnten und welche Konstellationen sie erkannten.
Leider schaffe ich es nachts nur selten nach draußen, sodass ich noch nie wirklich dazu gekommen bin, mir die einzelnen Sternenkonstellationen, wie zum Beispiel den großen Wagen oder den Schützen, außerhalb der Bücher ansehen zu können. Ein abgedrucktes Bild in einem Buch anzusehen oder es mit eigenen Augen zu sehen, ist ein ziemlich großer Unterschied.»Was wollen wir jetzt hier ? Du weißt genau, dass wir uns nicht zu weit von der Stadt entfernen dürfen. Besonders nicht um diese Uhrzeit«, teilt sie mir bestimmt zum zwanzigsten Mal mit, seit ich sie aus ihrem Bett gezerrt habe.
Ich bin, zu ihrem Missfallen, noch nie eine Langschläferin gewesen. Schon oft habe ich mich früh morgens aus dem Haus geschlichen und sie, wie sie es gerne nennt, zu irgendwelchen 'hirnrissigen Aktionen' überredet. Dass wir dabei noch nie erwischt wurden, grenzt beinahe schon an ein Wunder, denn Victoria ist wirklich nicht die Geschickteste, was das 'Leisesein' angeht. Entweder sie wirft in der Dunkelheit irgendwelche Sachen von den Schränken oder macht irgendeinen anderen Lärm, was uns beinahe schon Kopf und Kragen gekostet hätte. Schließlich hat die Regierung nicht zum Spaß eine Ausgangssperre verhängt.
»Und du weißt genau, dass mir das egal ist. Ich will mich nicht wie ein Vogel in einen Vogelkäfig einsperren lassen und darauf warten müssen, dass irgendwann mal jemand den Käfig öffnet und mich für eine halbe Stunde in einem geschlossenen Raum fliegen lässt. Außerdem wurde ich noch nie erwischt, wenn ich hier war«, antworte ich und setze mich langsam wieder in Bewegung. Es stimmt, schon oft bin ich hier gewesen, wenn ich dem Alltag einfach mal wieder entfliehen wollte. Natürlich bleibt mein Verschwinden nicht immer unbemerkt, doch bis heute weiß niemand, wo ich mich eigentlich rumtreibe. In diesem Viertel Londons sind immer nur wenige Wachen unterwegs, da sie davon ausgehen, dass sich hier ohnehin niemand aufhält. Außer mir kennt wahrscheinlich auch keiner der Bürger diesen Ort, was ich definitiv als besser empfinde, da ich so meine Ruhe habe, wenn ich sie brauche. So muss ich mich wenigstens nicht auch hier mit gespielter Freundlichkeit und ehrlicher Abneigung auseinandersetzen. Alles Eigenschaften, die mittlerweile überall zum Alltag dazugehören.
DU LIEST GERADE
Visions - Verbotene Erinnerung
Science Fiction»Wenn du jetzt da raus gehst, kann ich dich nicht mehr beschützen und ich kann dich auch nicht darauf vorbereiten, was du zu Augen bekommen wirst«, sagt er mit ernster Miene und hält mich am Arm fest, bevor ich die große Stahltür öffnen kann. »Gena...