Kapitel 2 - Das Mädchen im weißen Kleid

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Erschöpft sitze ich wenig später auf meinem Bett und starre an die gegenüberliegende, graue Wand. Sie sieht makellos aus und doch scheint sie unendlich viele dreckige Geheimnisse zu verbergen. Wobei dies wohlmöglich auch an der Farbe liegt. Ich bin noch nie ein großer Fan von grau gewesen, weshalb es mir nicht unbedingt zusagt, dass ich genau dieser Farbe am Häufigsten begegne. Durch das Grau wirkt alles in meiner Umgebung so gleich und rein. Es ist als würde es die verschiedenen Persönlichkeiten von jedem hier unterdrücken und in sich verschwinden lassen.

Noch immer schwirren meine Gedanken um die kleine Hütte und den Traum, den ich hatte. Mittlerweile bin ich auf den Punkt gekommen, dass das alles ein schrecklicher, bedeutungsloser Traum gewesen sein muss. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein.

Schon des Öfteren haben sich Albträume in meinen Schlaf geschlichen, wegen welchen ich immer wieder schwitzend und vollkommen schockiert aufgewacht bin, doch am hellichten Tag ist mir soetwas noch nie passiert. Auch solch ein Ausmaß haben die Träume nie angenommen. Meist erschienen mir im Traum dunkle Gestalten, welche auf unschuldige Mitbürger - meistens Frauen oder Kinder - einschlugen, doch musste ich noch nie mitansehen, dass dabei jemand starb, da ich immer rechtzeitig wach wurde und das Ganze somit beendete. Dieses Mal jedoch gab es kein Entkommen. Es war, als würde mich eine stärkere Kraft daran hindern wollen, aufzuwachen. Als wollte sie, dass ich mitansah, wie all diese Menschen starben.

Bei dem Gedanken an die Seelen, die ihren Körper in der Hütte zurücklassen mussten, wird mir aufeinmal ganz kalt und ich ziehe die Decke weiter nach oben.
Ein leises Klopfen an der Tür reißt mich schließlich aus meinen Gedanken und mein Kopf schießt in die Richtung, aus der das Geräusch kommt.

»Herein«, rufe ich mit belegter Stimme, wobei man das Zittern wohl noch immer heraushören kann. Sofort schwingt die Tür auf und knallt leicht an die graue Wand, was mich unverhofft zusammenzucken lässt. Im Türrahmen steht Victoria, welche in ihren Händen ein kleines Tablett mit allerlei Lebensmitteln balanciert. Ihre Haare hat sie zu einem strengen Zopf gebunden und ein besorgtes Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie auf mich zukommt und sich zu mir auf die Bettkante setzt.

Das Tablett stellt sie neben sich auf die weiße Bettdecke und reicht mir eine Tasse mit dampfender Flüssigkeit, welche ich dankend entgegen nehme. Sofort rieche ich den angenehmen Geruch von erfrischender Minze und seufze leise.

»Wie geht es dir ?«, fragt sie ruhig und streicht mir eine lose Haarsträhne hinter's Ohr. Für einen Moment erinnert sie mich an meine Mutter, welche wahrscheinlich noch immer friedlich in ihrem Bett liegt und schläft.

Obwohl sie manchmal sehr streng und rücksichtslos mit anderen Menschen umgeht, steckt in ihr dennoch eine mütterliche Ader. Sie ist die Art von Freundin, die dich zuerst auslacht und dir schließlich den allzu bekannten Ich-habe-es-dir-doch-gleich-gesagt- Blick zuwirft, ehe sie dich in die Arme schließt und dich wieder aufbaut. Ich bin wirklich froh, jemanden wie sie zu haben.

»Ging mir schonmal besser«, murmele ich und lasse mich tiefer unter die Bettdecke sinken, ehe ich einen Schluck von der heißen Flüßigkeit nehme.
»Wenn du darüber reden willst, dann bin ich da und höre zu. Nur, dass du das weißt«, sagt sie so leise, als würde sie mir gerade ein gut behütetes Geheimnis erzählen. Ich weiß genau, dass sie darauf brennt, zu erfahren, was vor etwa 20 Minuten passiert ist. Vermutlich schreit jede einzelne Faser in ihrem Körper danach, mich auszuquetschen und mit Fragen zu bombadieren, doch sie tut es nicht. Ihre Selbstbeherrschung scheint wenigstens noch bis dahin zu reichen, um ruhig neben mir auf meinem Bett zu sitzen und mich verkrampft anzulächeln. Wäre ich nicht so fertig, würde ich vermutlich anfangen zu lachen, da das alles einfach eine zu bizarre Situation abgibt.

Visions - Verbotene ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt