II | Etwas Hilfe

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"Alta, ich pack das nicht!"
"Ach komm, Agata, das schaffst du schon. Wer, wenn nicht du?"


Der Alkohol- und damit verbundene Stimmungspegel waren mittlerweile richtig krass angestiegen. Obwohl ich wie alle anderen mehr oder weniger angetrunken war, kam plötzlich Lampenfieber in mir hoch. Ich wollte mich nicht vor allen möglichen Leuten blamieren, obwohl ich sie doch eh nie wieder sehen würde. Vielleicht aber auch doch?! Es soll bekanntlich oft vorkommen, dass man Leute in unerwarteten Momenten wiedertrifft. Oh fuck.
Taddl versuchte nun schon seit ungefähr 10 Minuten, mich zu beruhigen. Mary, der es ebenfalls probiert hat, hat schon nach weniger als 3 Minuten abgeschalten. Wenn ich aufgeregt bin, kommen viele mit meiner Hysterie, in die ich zum Teil verfalle, nicht klar. Ich kann es verstehen, mir würde es auch so gehen, wenn ich nicht ich wäre. "Willst du vielleicht raus hier? Mir wird es langsam zu stickig." Ich nickte und folgte Taddl aus dem Raum. "Nach draußen?" "Nein, das fällt zu sehr auf. Wie wäre es mit dem Treppenhaus?" Er öffnete beinahe lautlos die Glastür und ließ mich gentlemanlike zuerst herein. Ein Blick auf die Uhr, die dort hing, verriet mir, dass wir noch um die 20 Minuten hatten, bevor wir uns umziehen mussten. Taddl und ich hatten zusammen eine Szene ziemlich am Anfang, dann musste ich ewig warten und nur noch einmal zur Verbeugung kommen. Der Blauhaarige hingegen hatte mit seinen mehreren Auftritten weniger Glück. Du schaffst es, redete ich mir mantramäßig immer und immer wieder ein. Ich konnte jetzt nicht alle im Stich lassen wie Nick, der ja unbedingt zu seinem ach-so-wichtigen Frisörtermin musste. Ohne Scheiß, ich war kurz davor, ihm höchstpersönlich eine Glatze zu rasieren. Es hätte mich zwar mein Leben gekostet, aber na gut.


Ich lehnte mich an das Treppengeländer und schaute nach unten. Die meisten, die ich kenne, haben dabei Höhenangst, aber bei mir ist es anders. Im Gegenteil, ich liebe die Höhen, bei denen man sich so ... unabhängig und schwerelos fühlt. Wisst ihr was ich meine? Es müssen keine riesigen Berge sein, nicht mal ein 10-Meter, sondern auch so etwas Spontanes. Mein Körper zuckte kurz zusammen, als ich Taddls Brust an meinem Rücken spürte und sich seine Hände um meine Taille schlangen. Es erinnerte mich leicht an eine Szene aus Titanic. Ich habe den Film schon gefühlte Millionen Mal geschaut und trotzdem muss ich immer mal wieder weinen. Die Geschichte ist sehr rührend und die Schauspielkünste unbezahlbar!
Trotz dieser schönen Erinnerungen kam langsam wieder dieses üble Gefühl in meinem Magen hoch. Ob es an der Aufregung, dem Bier oder beidem liegt weiß ich echt nicht, jedenfalls fühlte ich mich dreckig. "Willst du jetzt runter reihern oder was?" Taddl sah mich leicht belustigt, aber dennoch besorgt an. Ab und zu regt mich der Typ echt auf. Genauer gesagt dann, wenn Witze mega unangebracht sind, er es aber nicht schnallt und aktiv einige rausballert. "Penner." "Dann bin ich halt ein Penner." Der Junge hinter mir lachte herzlich. Durch seine tiefe, angenehme Stimme bildete sich eine Gänsehaut auf meinem Rücken. Diese wurde nur noch stärker, als Taddl begann, vorsichtig Küsse in meinen Nacken zu hauchen. Er tat es etwas unsicher, aber dennoch spielerisch, so dass sich auch meine Härchen aufrichteten. Seine Hände drückten mich noch fester an ihn, als ob er mich am Wegrennen hindern wollte. Auf so eine weirde Idee würde ich aber nie kommen, glaubt mir. Das ist mein purer Ernst. Ich kapier es nicht, wieso es in Büchern und Filmen ziemlich oft so ist. Wendet euch lieber an die Autoren und Macher. Die können den Stuff sicher besser beantworten und die Rechtfertigungen könnten auch lustig werden.
"Willst du auch eine rauchen?" Taddl löste sich für einen Augenblick von mir und holte eine Schachtel aus der Hosentasche. Wie erwartet zog er eine Zigarette und ein Feuerzeug hervor und zündete sie an. "Was willst du machen, wenn der Feueralarm anspringt?" Er lachte nur: "Der ist definitiv aus. Die meisten Lehrer sind doch eh zu faul, um raus zu spacken und machen es hier. Hast du das nicht bemerkt?" Ich schüttelte den Kopf. Nein, hatte ich nicht, aber ich hatte auch nie darauf geachtet, wo und wann die Lehrer es machten. Wieso auch?
Taddl nahm einen kräftigen Zug und drückte seine Wange an meinen Hinterkopf. Der Rauch, den er ausblies, bahnte sich einen Weg nach oben. Nach und nach kamen Ringe dazu, die nahezu elfengleich schwebten. Doch trotzdem wirkten sie zerbrechlich. "Willst du auch?" Tud hielt mir die Zigarre hin und lächelte. Dieser kleine Wichser. Er wusste doch genau, wie sehr ich sowas hasste. Den Gestank und den Antinutzen für meine Gesundheit. "Dein Ernst? Ich habe dir doch schon 100.000 Mal gesagt, dass ich durchs Leben kommen will, ohne sowas angerührt zu haben. Der Alk reicht mir schon." Er zuckte nur mit den Schultern und machte alleine weiter. In diesem Punkt kann man mich nämlich einfach nicht überzeugen. Wenn es andere machen, kann ich nothing dagegen tun, auch wenn es mich nervt, aber selbst ... no way!
Ich drehte mich herum - anscheinend so unerwartet, dass Taddl einen Satz zurücksprang. Er blickte mir direkt in die Augen und ich in seine. Ein freshes Blau mit einem Touch Grau, dazu noch ziemlich nüchtern. Ob ich dasselbe auch von mir sagen könnte? Naja... lieber nicht. Fragt ja keiner nach oder
so.


"Weißt du...", meinte Tud auf einmal und katapultierte mich zurück in die Gegenwart, "... es gibt da noch eine Sache, die wir machen müssen, bevor wir aus der Schule hier raus sind." "Welche?" Ich blickte ihn möglichst unschuldig an, dabei kamen mir sehr viele Vermutungen, um welchen Shit es sich diesmal handeln könnte. Mein Gegenüber riss gespielt erschrocken die Augen auf, sodass ich kurz vor einem Lachflash stand. Immer noch mit dem gleichen Gesichtsausdruck strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht, schlang erneut eine Arme um mich und legte seine Lippen auf meine. Die ersten Sekunden war ich doch überrumpelt, auch wenn ich diese Option scherzhaft in Betracht gezogen habe, doch dann ging es mir wieder normal. Die Wirkung des Alkohols ließ auch minimal nach. Ich verschränkte zufrieden meine Hände in Taddls Nacken und schaute kurz auf seinen Hals. Er hatte es bereits geschafft, sich gleich an seinem Geburtstag tätowieren zu lassen, auch an dieser Stelle. Ich wartete lieber noch, nicht zuletzt aus der Unsicherheit, ob ich wirklich so lange dazu stehen könnte.
Meine Hände wanderten zu seinen Haaren, wo ich die albernen Zöpfe löste und die Haargummis um meine Gelenke band. Taddls Haare fielen ihm nun leicht ins Gesicht. Etwas strähnig und keineswegs perfekt, aber genau passend. Sie spiegelten ihn so wieder, wie ich ihn in den letzten Jahren kennengelernt hatte: Ein cooler, verrückter, aber liebenswerter und spaßiger Chaot. Meine Lippe kribbelte kurz, als er mit seiner Zunge um Einlass bat. Auf eine sehr fordernde Art, die mich dann doch erstaunte. Es gefiel ihm sehr, das sah ich. Mir ging es genauso, deshalb ließ ich mich darauf ein. Ohne Widerstand, das wäre sowieso der Nase lang schief gegangen.
Wir ließen erst voneinander los, als keiner von uns mehr Luft hatte. Taddl war bereits ziemlich rot angelaufen und auch ich fühlte mich wie so 'ne fucking Tomate. "Wollen wir wieder zu den anderen gehen?" "Klaro."



"Wow, das steht dir!"
"Haha, sehr witzig, Thaddeus." Ich verwendete mit Absicht nicht seinen Spitznamen, um ihn leicht anzustacheln. Das ist immer sehr lustig, außerdem hatte er es verdient. Dieses Kostüm, dass mich angeblich zu einer Bäuerin machen sollte, sah einfach nur lächerlich und scheiße aus. Die weiße, komische Bluse sah einfach nur weird aus und mit dem langen blauen Rock fühlte ich mich auch nicht sonderlich wohl. Ich trage so etwas halt nie, wenn, dann einen kürzeren. Außerdem sind Jeans viel praktischer. Taddl hatte es mit Hemd, Hose und einem bescheuerten Hut viel leichter. Vor allem, wieso musste er das überhaupt tragen, wenn seine Haarfarbe diese pseudoklassische Wirkung krass zerschmetterte? Oh man, einige Lehrer verstehe ich bis heute nicht.
Tud hielt mir die Tür zum hinteren Teil der Bühne auf: "Bitte sehr, meine werte Frau Bäuerin." "Danke, Herr Tjarks." Wir konnten es einfach nicht lassen, uns ab und zu voller Sarkasmus anzugiften. Es gehörte irgendwie dazu, deshalb konnte ich mir auch nicht so richtig vorstellen, wie es sein würde, ihn uns die anderen nach so vielen gemeinsamen Jahren nur noch selten oder nie mehr zu sehen.


Die Szene vor uns hatte bereits angefangen, nur Alex und Simon standen als "Bühnenhelfer" herum. Sie hatten nur kleine Rollen und mussten den Rest der Zeit Zeug herumtragen. Wenn sie frei hatten, würden sie bestimmt unauffällig auf die Bühne schauen und sich einen abfeixen, darauf konnte ich wetten. Alex klopfte mir ermutigend auf den Rücken. Ich würde es schaffen!
Ehe ich mich versah, schepperten auch schon die anderen von der Bühne. Ich schaute zu Taddl. "Das schaffst du!", meinte er nur noch, ehe er mir zuzwinkerte und hinter dem Vorhang verschwand.

Weit weg vom SystemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt