His 6th cigarette

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[H i s   6 t h   c i g a r e t t e]

Frustriert stöhne ich und lasse meinen Kopf gegen die Wand sinken. Um mich herum liegen noch immer die Fotos auf der Bettdecke und in meinem Schädel pulsiert es. Es war keine gute Idee, all die Bilder anzuschauen, es macht mich traurig und es schmerzt und ich will doch nur meine Willow zurück. Meine Beine habe ich im Schneidersitz überkreuzt und in meinem Schoss halte ich das Bild von Willow und mir in Paris. Ich habe sie darauf huckepack genommen und wir lachen beide ausgelassen in die Kamera. Wir mussten einen Passanten fragen, ob er das Foto für uns machen könnte und er hatte es tatsächlich geschafft, die Kamera schief zu halten, aber es ist trotzdem ein perfektes Bild. Der Himmel ist strahlendblau, nur durchzogen von einigen Schäfchenwolken, der Eiffelturm zeichnet sich scharf dagegen ab und wir beiden sehen einfach nur glücklich aus. Willows Haar ist zu einem lockeren Dutt gebunden und sie schmiegt sich in die Kuhle meiner Schulter. Touristen sind unscharf hinter uns zu sehen.

Wir hatten nie viel Geld – wie soll man auch, als Angestellter in einem Buchladen und als Floristin? – aber wir wollten beide unbedingt einmal nach Paris. So sparten wir damals ein gutes Jahr alles, was wir zur Seite legen konnten, bis wir uns zwei Zugtickets von London nach Paris und Retour, sowie zwei Nächte in einem winzigen Hotel an der Seine leisten konnten. Es war definitiv kein Luxusurlaub, wir assen die ganzen drei Tage lang immer nur Croissants oder Baguettes oder Crêpes, keine wirklichen Mahlzeiten, aber es war ein schönes Wochenende.

Ich schlucke schwer und lege das Foto zur Seite, fahre mir durch die Haare. Die Luft im Zimmer ist stickig und geschwängert vom Zigarettenrauch, den ich zuvor in den Raum geblasen habe. Plötzlich wird mir übel davon und ich stemme mich wackelig auf die Beine, reibe mir über das Gesicht. Ich muss hier raus. Unordentlich wische ich die Fotos zusammen auf einen Stapel, binde das Gummiband wieder darum und lasse es so auf der Bettdecke liegen, ehe ich aus dem Zimmer und durch die restliche Wohnung strauchle. Draussen sieht es nach frühem Abend aus, wie es eben im Winter so ist, und ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es tatsächlich schon nach 17 Uhr ist. Wie lange habe ich diese Fotos angesehen? Wie lange war ich zuvor auf den Strassen Londons unterwegs? Ich will gar nicht darüber nachdenken. Ich will über gar nichts mehr nachdenken. Ich will diesen Tag jetzt vergessen.

Eilig kippe ich zwei Fenster im Wohnzimmer, um zu lüften, bevor ich mir meine Schlüssel nehme und zum zweiten Mal heute in meine Schuhe und meine Jacke schlüpfe. Ich schlinge ausserdem einen Schal um meinen Hals, weil es trotz Sweater und Jacke doch relativ kühl draussen ist. Unbewusst berühre ich meine Jeans, um zu spüren, ob die Zigarettenschachtel noch dort ist und... Ja, sie ist es. Und damit schliesse ich hinter mir schon die Wohnungstür ab, stolpere beinahe durch das Treppenhaus und trete wieder nach draussen in die kalte Luft. Mein Atem verlässt meinen Mund als weisse Wölkchen und ich vergrabe meine Nase schnell in meinem Schal, so wie Willow es immer getan hat. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und bleibe kurz stehen, um die Augen zusammen zu kneifen.

Du denkst jetzt nicht mehr an sie, Harry. Nicht jetzt, nicht heute., sage ich mir streng in Gedanken, balle meine Hände in meinen Jackentaschen zu Fäusten und öffne dann meine Lider. Mir ist bewusst, dass ich sie wahrscheinlich einfach so nicht vergessen kann, sondern dass ich dafür Hilfe brauche. Doch nicht die Hilfe einer Person… Ich ziehe die Nase hoch und beginne entschlossen in Richtung Ende der Strasse zu laufen. Dort, zwischen zwei Blöcken eingeklemmt und leicht tiefergelegt, befindet sich das McLaughlin‘s, mein Lieblingspub. Willow und ich kamen früher jeden Freitag hier her, weil wir uns mit Niall, dem Sohn des Besitzers doch recht gut verstanden haben. Die Schritte meiner braunen Winterstiefel hallen sanft gegen die Häusermauern und die Strasse ist zum grössten Teil leer. Das Pub wird voraussichtlich auch noch leer sein, wenn man bedenkt, dass es erst um 16 Uhr geöffnet wurde, aber das stört mich nicht. Ich bin nicht dort, um Leute zu treffen, sondern um meine Sorgen zu ertränken und zu vergessen.

Nine Cigarettes || h.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt