5 - Phone Call

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Ich starre gerade meinen Block so böse an, als trage es persönlich die alleinige Verantwortung für all die Aufsätze und Analysen, die Montag fällig sind und bin in starker Versuchung, es kurzerhand aus dem Fenster zu schmeißen, als das Display meines Handys wegen eines eingehenden Anrufs aufleuchtet. Unbekannte Nummer. Schulterzuckend nehme ich den Anruf entgegen. Zurzeit ist mir alles lieber als mich mit meinen Schulaufgaben herumschlagen zu müssen.

„Hallo?"

„Geneviève? Hey, hier ist Raphael, bitte leg nicht direkt auf", ertönt es am anderen Ende der Leitung.

Ich bin zu überrascht, um das zu tun. Langsam habe ich den Verdacht, dass er eine Wette verloren hat - oder eine gewinnen muss.

„Woher hast du meine Nummer?", verlange ich zu wissen.

Scarlett wäre wohl alles andere als erfreut, von ihm angesprochen zu werden, nur damit er nach meiner Nummer fragen kann.

„Lindsay", sagt er. Damit habe ich nicht gerechnet.

Ich gebe einen unverbindlichen Laut von mir - eine Mischung aus Mh hm und Aha.

„Ich hoffe dir macht's nichts aus, dass ich deine Nummer habe."

„Wenn ich sie ändere, wird es wohl so sein", falle ich ihm ironisch ins Wort, kaum, dass er ausgeredet hat, während ich mir versuche, vorzustellen, wie er ausgerechnet mit Lindsay über mich redet. Das Bild geht nicht so recht in meinen Kopf.

Sein Lachen hat einen nervösen Unterton. Wahrscheinlich fragt er sich, wie viel Wahrheit in meinem Scherz steckt. Ich merke, dass ich gar nicht auflegen will. Mein Tisch mit den verstreuten Blättern, Blöcken und diversen Stiften reizt mich nun wirklich nicht im Mindesten. Außerdem muss ich zugeben, dass ich neugierigbin, was er mir zu sagen hat. Seine Hartnäckigkeit ist bewundernswert, wenn auch irritierend.

„Wieso rufst du an?"

„Ich wollte mit dir reden", verkündet er schlicht das Offensichtliche.

Ich verdrehe die Augen, auch wenn das niemand sehen kann. Immerhin hat er nicht behauptet, meine Stimme hören zu wollen oder Ähnliches. Denn bei diesem abgedroschenen Spruch hätte ich wohl doch noch aufgelegt und mich lieber mit Sachtexten beschäftigt.

„Worüber?", hake ich nach, als er nicht weiterspricht.

„Ich weiß es nicht. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dich wegen den Chemiehausaufgaben zu fragen", gibt er zu, „aber das wäre nur ein Vorwand. Du hättest mir wahrscheinlich sowieso nicht geholfen."

Verblüfft schüttele ich den Kopf. Wieso ist er nur so ehrlich? Doch das kann ich ihn schlecht fragen. Stattdessen sage ich bloß: „Da könntest du recht haben. Aber auch nur, weil ich weiß, dass du die Aufgaben auch ohne meine Hilfe lösen kannst."

„Woher willst du das wissen?", fragt er, fast schon herausfordernd.

„Keine Ahnung", sage ich gedehnt, „vielleicht liegt es daran, dass du im Unterricht nach jeder Frage die Hand oben hast und ich irgendwie bezweifle, dass du das tust, um zu fragen, ob du kurz raus darfst."

Er lacht. „Wer weiß? Vielleicht möchte ich Mrs Zomé auch ein Kompliment zu ihrer Frisur machen?"

Die Professorin ist wohl eine der ältesten Lehrkräfte an der Schule und trägt ihre Haare immer in einem so straff gebundenen Knoten, dass ich mich jedes Mal frage, ob sie nicht höllische Schmerzen an der Kopfhaut erleiden muss.

„Sicher doch. Bisher habe ich dich nicht für jemanden gehalten, der sich so seinen Weg zu den hundert Punkten erschleimt, aber mach ruhig weiter so. Dann glaube ich das irgendwann noch."

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