2 - Piano

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Vor der nächsten Musikstunde nehme ich den Schlüssel, den ich Mr. Adams abgeschwatzt habe, um die Tür zum Raum aufzuschließen. Schon der Anblick des schwarzen Flügels, der einsam und hoheitsvoll elegant im vorderen Teil neben den Fenstern aufgestellt wurde, beruhigt mich. Ich kann mir meine Begeisterung für dieses Instrument, die beinahe an Besessenheit grenzt nicht erklären. Obwohl ich einen eigenen bei mir Zuhause stehen habe, nutze ich jede Gelegenheit, die sich mir bietet, in den Pausen oder freien Stunden hier her zu verschwinden. Ein weiterer Grund ist natürlich, dass ich auf diese Weise meinen Mitschülern aus dem Weg gehen kann, ohne dass es so aussieht, als würde ich nichts mit ihnen zu tun haben wollen, was meistens stimmt, oder als würde ich vor ihnen fliehen, was natürlich auf gar keinen Fall stimmt. Ich ziehe die Vorhänge auf und schalte das kalte elektrische Licht aus, das blaue Leuchten lässt mich immer krank fühlen. Wie schon so oft wünsche ich mir, dass ich hier Kerzen aufstellen könnte, aber das würde Mr. Adams selbst mir nicht erlauben. Wenn jemand den Rauch riechen würde, wäre hier die Hölle los. Ich setze mich hin und klappe den Deckel auf, um beinahe andächtig auf die Tasten zu schauen. Die Sonne scheint direkt auf sie und bringt die einzelnen Staubkörner zum leuchten. Kurz schließe ich meine Augen, um die absolute Ruhe auszukosten, die in einem Gebäude voller Menschen eigentlich unmöglich zu finden ist - sogar auf den Toiletten herrscht stets ein reges Treiben -, bevor ich mit dem spielen anfange. Zu Beginn spiele ich eine simple Melodie, die hell und fröhlich durch den Raum hallt. Dieses Stück ist mir so vertraut, dass ich es auch mit weiterhin geschlossenen Augen hätte spielen können. Als ich aufgewärmt bin, gehe ich über zu einem Lied, das ich vor einigen Wochen gelernt habe. Irgendwo in der Mitte stocke ich immer bei dem Trillern, das selten so klingt, wie ich es haben möchte. Auch diesmal fange ich wieder von vorne an und hetze mich durch das Stück, bis ich diese Stelle erreiche. Wäre mein früherer Klavierlehrer anwesend, würde er sich sehr wahrscheinlich gequält die Ohren und Augen zu halten.

„Ein Stück, das ohne Gefühl gespielt wird, ist schlimmer als ein Stück, das gar nicht erst gespielt wird", pflegte er immer zu sagen.

Und dass das Durchrauschen durch ein Lied nicht mit dem richtigen Gefühl vereinbar ist, scheint offensichtlich. Ich spiele es noch etliche Male durch, bevor es zu meiner Zufriedenheit klappt und blicke dann erst auf, um mein Gesicht in die Sonne zu halten, als ich an der Tür eine kleine Bewegung wahrnehme. Mein Kopf schnellt herum. Ungläubig sehe ich Raphael an, der am Türrahmen gelehnt einfach nur dasteht - kurz fragt sich ein Teil von mir, ob er jemals frei steht.

„Was machst du hier?"

Er blinzelt etwas verwirrt, als wäre er mit den Gedanken völlig woanders gewesen. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin hier vorbeigekommen und wollte zuhören. Die Tür war nur angelehnt."

Natürlich muss ich ausgerechnet heute vergessen, hinter mir abzuschließen. Nicht nur das. Wenn ich ihm Glauben schenken kann, dann habe ich die Tür nicht einmal richtig geschlossen.

„Weißt du, es ist echt unhöflich, sich einfach so heranzuschleichen und ohne ein Wort jemanden zu beobachten", fahre ich ihn schroff an.

Ich spiele nicht gerne vor anderen Menschen, und schon gar nicht vor denen, die ich kaum kenne. Es kümmert mich nicht, ob ich dadurch eigenartig wirke, doch ich möchte die Musik für mich allein haben und sie nicht teilen müssen. Wenn ich Klavier spiele, bin ich in meiner eigenen Welt.

„Ich habe dich nicht beobachtet", verteidigt er sich, „ich wollte wirklich nur kurz zuhören und dich nicht stören."

„Tja, das hast du aber", entgegne ich und klappe den Deckel behutsam zu, obwohl ich meinen Ärger kaum in Zaum halten kann.

„Wieso bist du eigentlich so unfreundlich?", fragt er direkt.

Seine Stimme klingt dabei nicht vorwurfsvoll, sondern ehrlich neugierig. Ich frage mich, was mit ihm nicht stimmt. Selbst wenn ich die Prinzessin bin, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass meine Mitmenschen immer freundlich zu mir sind, ganz zu schweigen davon, eine solche Frage in dem geduldigen Tonfall auszusprechen.

„Weil ich nicht gestört werden möchte."

Er möchte etwas sagen, doch ich schüttele den Kopf.

„Hör zu, ich suche keine Freunde oder so", erkläre ich und versuche, vernünftig zu klingen, was meiner Meinung nach ganz passabel klappt, „ich bin nicht die Neue hier. Vielleicht solltest du dich mit anderen unterhalten, wenn dich meine Unfreundlichkeit, wie du es nennst, so stört. Ich meine, wow, jetzt hast du mich kennengelernt und oh, die Prinzessin ist ja gar nicht liebreizend und liebenswürdig, Überraschung."

Ich schalte das kalte Licht wieder an, ziehe die Vorhänge zu und setze mich auf meinen Platz. Die Stunde würde bald beginnen. Raphael setzt dazu an, etwas zu sagen, dann überlegt er es sich wohl doch anders und setzt sich ebenfalls - schweigend. Doch wenn ich dachte, dass er so schnell nachlässt, so habe ich mich getäuscht. Denn nach weniger als zwei Minuten - ja, ich zähle tatsächlich die Sekunden, mein Psychologe sagt dazu, dass ich so das Gefühl habe, die Kontrolle zu behalten. Wenn ihr mich fragt, wird er von meiner Mutter dafür bezahlt, so einen Schwachsinn von sich zu geben -wendet er sich mir zu.

„Wie lange spielst du schon Klavier?"

Kurz erwäge ich die Option, nicht zu antworten, aber es handelt sich um eine so lächerlich belanglose Frage, dass ich mir kindisch vorkommen würde, also erwidere ich knapp: „Seit zwölf Jahren."

Bevor er mich weiter ausfragen kann, klingelt es, und Mr. Adams betritt pünktlich auf die Sekunde den Raum.

„Ah, Geneviève und Raphael, schön, dass Sie da sind. Haben Sie sich schon besser kennengelernt?"

„Nein, Mr. Adams", erwidere ich höflich, „ich bin ausschließlich wegen des Flügels hierhergekommen."

Er schmunzelt, weil er denkt, dass ich scherze, obwohl dies keineswegs der Fall ist.

„Ich hatte noch nie eine Schülerin, die so vernarrt in das alte Teil wäre wie Sie."

„Er hat einen besonderen Klang", gebe ich zu.

Raphael neben mir scheint fast schon eingeschnappt zu sein, dass ich unserem Musiklehrer mit solch einer Freundlichkeit begegne. Ich bin versucht, ihm zu sagen, dass Mr. Adams - im Gegensatz zu ihm - verantwortlich für meine Noten ist, lasse es aber doch bleiben. Mag sein, dass ich keine Freunde suche, aber Feinde habe ich auch nicht vor, mir zu machen. Die Ankunft der anderen Schüler bewahrt uns vor einer peinlichen Stille. Es ist eines der seltenen Male, in denen ich ihnen tatsächlich dankbar für ihre Anwesenheit bin.

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