6 - You're stalking me?!

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In der Mittagspause reden alle nur von Lindsays ach so bombastischen Feier, zumindest alle an meinem Tisch. Ihr sinnloses Geplapper verblasst mit den Hintergrundgeräuschen, als ich ihre Stimmen ausblenden. Ich gebe es nur ungern zu, doch ich fühle mich tatsächlich übergangen. Das schaffe wohl nur ich: erst eine Einladung hochmütig ausschlagen und sich später dann ausgeschlossen fühlen. Doch es hätte nichts geändert, wenn ich hingegangen wäre. Egal, wo ich auch hinkomme, ich fühle mich nie so, als würde ich dazugehören, nicht wirklich. Es ist eigentlich höchst erstaunlich, wie ich so einsam sein kann, wenn ich doch ständig von Menschen umgeben bin. Wäre es nicht so frustrierend, hätte ich die Ironie des ganzen zu würdigen gewusst.

„Jen?", reißt mich Scarlett aus meinen Gedanken.

Ich kann sie schlecht ignorieren, wenn sie mich direkt anspricht, so unhöflich bin ich dann auch nicht. „Ja?" Gelangweilt blicke ich auf.

„Wie war dein Wochenende?"

Ich glaube keine Sekunde daran, dass sie dies fragt, um mich in das Gespräch zu integrieren. Natürlich muss sie mir unter die Nase reiben, was ich verpasst habe. Am liebsten würde ich sagen, dass ich absichtlich nicht hingegangen bin, doch das wäre Lindsay gegenüber mehr als unfair.

Also schlucke ich wie so häufig meine Wut hinunter und erwidere schulterzuckend: „Das übliche. Wir waren bei einer Cousine dritten Grades oder so eingeladen."

Ihr Freund Derek beugt sich vor. „Kannst du dir eigentlich noch alle Namen merken? Bei den ganzen Verwandten, die du hast würde mich das echt wundern", meint er lachend.

„Dafür habe ich ja die Stammbäume", gebe ich zurück.

Er ist kein schlechter Kerl. Ich habe mich oft gefragt, wie er es mit Scarlett aushält. Sie scheint verstimmt zu sein. Wenn man es genau nimmt, ist sie immerzu verstimmt, sei es über etwas, das ich gesagt habe oder etwas, worüber ich geschwiegen habe. Doch man muss ihr wohl zugute halten, dass sie es gut verbergen kann. Ich bezweifle, dass es irgendjemand außer mir bemerkt, wie sich ihre Stirn leicht runzelt, als sie ihre Augen ein winziges Stück zusammenkneift.

„Klingt doch toll", kommentiert sie, „es ist auf jeden Fall schade, dass du nicht mitkonntest."

Ich bekämpfe den Drang, ihr das scheinheilige Lächeln aus dem Gesicht zu schlagen, das genauso aufgesetzt ist wie die bedauernde Miene, die sie zur Schau stellt. Stattdessen erwidere ich ihr Lächeln ebenso breit. „Ja, ich wäre zu gern dabei gewesen", kann ich es mir nicht verkneifen und hoffe um Lindsays Willen, dass es nicht so ironisch rüberkommt wie gedacht.

Es ist schließlich nicht ihre Schuld, dass Scarlett ihren schlechten Tag an mir herauslässt und mich provoziert. Glücklicherweise scheint das Thema damit beendet zu sein. Das Gespräch wendet sich der Boutique zu, die in der Stadt neu eröffnet wurde. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, bis sich ein Augenpaar von der Masse abhebt, da es das einzige ist, das in meine Augen schaut. Raphael, der mit einigen Freunden zwei Tische weiter sitzt, hebt grüßend die Hand, ich lächle in unwillkürlich an.

Derek folgt meinem Blick und wackelt dann mit den Augenbrauen, als wäre er ein drittklassiger Schurke. „Jen, läuft da etwas zwischen euch?", ruft er so schockiert aus, als würde er von einem Skandal berichten.

Ich sehe ihn finster an. „Klar doch. Nur weil ich ihm zugelächelt habe?"

Abwehrend hebt er beide Hände. „Hey, friss mich nicht gleich auf. Es ist mehr, als wir anderen Normalsterblichen bekommen."

„Allerdings", stimmt ihm Scarlett zu.

Ich weiß nicht, woran es liegt, dass mich ihre Bemerkungen immer am meisten aufregen. Wenn ihr Freund mich aufzieht, nervt es mich schlimmstenfalls, meistens kann ich jedoch darüber lachen. Doch egal, was sie sagt, bei ihr habe ich den Verdacht, dass sie jedes Wort, das ich von mir gebe, gegen mich verwenden wird, egal, wie banal es auch sein mag.

„Ich fühle mich leicht gestalkt", beschwere ich mich mit einem gezwungenen Lachen.

Zu meiner Überraschung ist es Lindsay, die mich vor einem Aggressionsanfall bewahrt. „Habt ihr den Bart gesehen, dem Ben sich wachsen lassen hat?", fragt sie ungläubig, „ich frage mich, wie viele Insekten schon darin leben."

Eine lebhafte Diskussion darüber, was die perfekte Bartlänge ist, bricht aus. Ausnahmsweise bin ich Lindsay dankbar für ihre oberflächlichen Gedankengänge und ihrer Fähigkeit, aus jeder Kleinigkeit ein Riesenspektakel zu machen. Denn so nimmt die Pause ein mehr oder weniger friedliches Ende, ohne dass irgendwer irgendwem an die Gurgel geht.

Als ich den Schultag endlich überstanden habe, hält mich nur der Gedanke daran, dass mich das ersehnte Wochenende erwartet, davon ab, aus dem Gebäude zu sprinten wie jemand, der nach zehn Jahren Haft entlassen wird. Mit der Aussicht, der Schule immerhin ganze zwei Tage zu entkommen, kann ich sogar nette Abschiedsworte für Scarlett erübrigen. „Bis dann, hab noch ein schönes Wochenende."

Diesmal scheint ihr Lächeln sogar ehrlich gemeint zu sein. „Danke, du auch." Sie winkt mir kurz zu, bevor sie mit Derek im Schlepptau in die andere Richtung verschwindet.

Wie aus dem Nichts taucht auf einmal Raphael neben mir auf. „Hey, schon was vor am Wochenende?"

„Du hast ziemliche Stalker-Tendenzen, weißt du das?", frage ich nur halb im Scherz.

Er zuckt mit den Schultern. „Noch stehe ich nicht hinter Büschen versteckt vor deinem Fenster und beobachte dich durch ein Fernglas."

Ich verdrehe die Augen. „Sag bloß, dass ich auch noch froh darüber sein soll. Das wäre schon die vorletzte Stufe."

„Nur die vorletzte?", er klingt amüsiert, „was ist dann die letzte Stufe?"

„Du gibst mir ein Getränk mit Beruhigungsmitteln zu trinken, entführst mich und hältst mich irgendwo im Wald fest, vielleicht in einer verlassenen Hütte", gebe ich völlig ernst zurück.

Ein verblüfftes Lachen ist die Antwort. „Du hast das ja wirklich gut durchdacht."

„Nein", ich schüttele den Kopf, „ist nur schon mal ungefähr so passiert."

Fast tut er mir schon leid. So wie er vor mir steht, mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich besagt, dass er nicht den blassesten Schimmer hat, was er darauf antworten soll. Ich erbarme mich seiner.

„War nur ein Witz", winke ich ab.

Sehr überzeugt sieht er zwar nicht aus, aber er nimmt die Möglichkeit zum Themenwechsel erleichtert an. „Und? Jetzt da wir geklärt haben, dass ich noch weit davon entfernt bin, die letzte Stufe des Stalkens erreicht zu haben, möchtest du dich vielleicht mit mir treffen?"

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