1| das gefühl eines brechenden herzens

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Colin

Zwei Jahre zuvor

Blut.

Überall Blut.

Meine Hände sind voller Blut. Meine Klamotten sind voller Blut. Mein Körper brennt wie Feuer. Mein linkes Bein ist in einer seltsamen Form geknickt. Meine Augen sehen nur rot, weshalb ich sie schließe. Meine Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und mein Kopf pocht wie verrückt.

Der Anschnallgurt presst mich in den Sitz. Meine blutverschmierten Hände fahren ihn nach unten entlang und ich löse mich von ihm.

Meine Augen öffnen sich nur schwer und ich richte meinen Blick nach vorne. Auf den Taxifahrer. Seine Stirn liegt auf dem Lenkrad, seine Arme baumeln leblos an den Seiten herunter. Die Frontscheibe ist mit Blut befleckt.

Kraftlos drehe ich meinen Kopf zur Seite und erstarre. Mein Hals schnürt sich zusammen und ein tränenerstickter Laut entflieht meiner Kehle. Tränen bilden sich in meinen Augen und ich lege meine Hand auf ihren Arm. Sara.

Ich versuche mich so gut wie möglich aufzurichten, schnalle sie ab und ziehe sie zu mir. Ihr wunderschönes Gesicht ist mit Blut bedeckt, ihre Augen geschlossen. Meine ebenfalls blutbedeckte Hand legt sich an ihre Wange und streicht sanft darüber.

Sie zeigt keine Reaktion.

Meine Brust schmerzt, wie sie es noch nie getan hat. Mein ganzer Brustkorb wird von einer Trauer und Wut zusammengepresst und ich kann nicht mehr atmen, kriege keine Luft mehr, die mich am Leben hält.

Ich drücke Sara noch enger an mich, doch ich spüre keine Reaktion. Keine Bewegung. Kein Atem. Kein Leben. Schmerz zieht in meinem Herzen. So sehr, dass ich keinen Ton herausbringe. Meine Kehle ist so eng, dass ich nur ein ersticktes Wimmern hervorbringe. Meine Stimme versagt. Es ist, als ob sie sich für immer verabschiedet hat.

Tränen laufen ohne Unterbrechung über meine Wangen. Sara, bitte bleib bei mir. Ich brauche dich. So sehr. Ich liebe dich. Ich liebe dich, Sara. Es tut mir leid, bitte komm zurück.

Doch egal wie sehr ich mir das wünsche, egal wie oft ich es wie ein Mantra in meinen Gedanken aufsage, sie bewegt sich nicht, sie gibt auch keinen Ton von sich. Ihre wunderschönen Augen werden verdeckt von ihren Lidern. Ihre Stirn weist mehrere Platzwunden auf.

Oh Gott, ich breche gleich zusammen.

Mit der letzten Kraft, die ich noch besitze, ziehe ich sie so eng wie möglich an mich und bedecke ihr ganzes Gesicht mit Küssen. Ihren Kiefer, ihr Kinn, ihre rechte Wange, ihre linke Wange, ihre Stirn mit all ihren Platzwunden. Ihre Augenlider, ihre Nase und zum Schluss ihre lieblichen Lippen. Mit all meiner Liebe küsse ich sie, versuche verzweifelt, sie zum Leben zu erwecken. Doch nichts geschieht, ihr Körper regt sich nicht. Meine Tränen tropfen auf ihre Wangen und ich wische sie weg. Ich liebe dich, Sara. Ich liebe dich so sehr.

Ein plötzlich lautes Geräusch holt mich zurück in die Realität. Ein Mann steht neben dem Taxi und versucht vergeblich die Tür aufzubrechen.

Ich bedecke Saras Ohren vor dem Lärm und fange an wirklich zu weinen. Ein Schluchzen nach dem anderen entfährt mir und ich presse meine Wange auf ihren Kopf. Ich möchte sie beschützen, selbst dann noch, wenn ich keine Kraft mehr habe. Selbst dann noch, wenn es nicht mehr von Nöten ist.

Der Mann schlägt die Scheibe ein und redet auf mich ein, doch ich kann ihn nicht hören. Das Einzige, was ich wahrnehme, sind die immer langsamer werdenden Schläge meines eigenen Herzens. Das Herz, was in den letzten Sekunden in tausend Einzelstücke zerbrochen ist.

Ich wache aufgrund eines penetranten Piepens auf, welches in regelmäßigen Abständen in mein Ohr dringt. Es nervt mich, doch ich kann es nicht abstellen. Meine Glieder fühlen sich verdammt schwer an. Mein Mund ist total trocken und ich kann mich nicht bewegen. Mein Körper tut so weh als wäre eine Walze über mich hinweg gefahren.

Überall Schmerzen.

Ich öffne meine Augen, denn für alles andere bin ich zu schwach. Alles, was ich sehe, ist weiß. Die Wände. Die Gardinen. Das Bett, in dem ich eingegipst liege. Selbst meine Haut ist weiß. Mir geht es nicht gut.

Erinnerungen durchfluten mich. Grausam und unbarmherzig. Der Unfall, das blutverschmierte Taxi. Sara.

Oh Gott, Sara. Ihre zierliche Gestalt in meinen Armen, ihr lebloser Körper an mich gepresst. Ihr wunderschönes Gesicht, nicht wiedererkennbar. Rote Farbe nahm Besitz von ihr und ich konnte nichts daran ändern.

Meine Finger verkrampfen sich ins Bettlacken, mein Gesicht verzieht sich vor Schmerz. Tränen tropfen auf meinen Hals und ich fange an zu weinen. Sara, meine Sara, ist tot und nichts kann sie je wieder zurückholen. Ich werde nie mehr ihr Lachen hören, nie mehr ihre Berührungen spüren und sie nie mehr küssen können.

Ich weine, doch meine Stimme ist weg. Lautlos und verkrampft krümme ich mich zusammen und lasse alles über mich ergehen. Jedes Gefühl, jeden Schmerz und jeden Herzbruch.

Eine Tür geht auf und ich höre Schritte, die vor mir stehenbleiben. Eine Hand berührt mich an der Schulter und ich schaue auf.

Ein Arzt sieht mich mitfühlend an und untersucht das Ding, an dem mein Herz angeschlossen ist. »Sie sollten sich ausgestreckt hinlegen. Alles andere tut Ihren inneren Verletzungen im Moment nicht gut.«

Widerwillig tue ich, was er sagt und beobachte ihn.

»Sie haben eine Gehirnerschütterung sowie aufgeplatzte Blutgefäße. Ihr linkes Bein ist gebrochen, einige Organe wurden beim Aufprall schwer beschädigt. Durch ausreichende Behandlungen werden ihre Organe wieder halbwegs funktionstüchtig sein, weshalb sie in einer ausgestreckten Position liegen bleiben müssen. Ihre Eltern sind bereits informiert und auf dem Weg hierher«, klärt mich der ältere Mann auf.

Ich versuche zu antworten, doch er unterbricht mich mit einer Handbewegung. »Sie sollten nicht sprechen. Ihr Kehlkopf wurde eingedrückt, was zu einer schmerzlichen Ausführung der Lautwiedergabe führt. Bitte, schonen Sie sich. Ich habe Ihnen Wasser bereitgestellt, das Sie trinken sollten.«

Ich schließe meine Augen und versuche krampfhaft, nicht an den Unfall zu denken. Ich höre die Tür ins Schloss fallen und weiß, er ist weg.

Wie soll ich mein Leben weiterführen? Sara würde sagen, ich solle stark sein. Für sie und für mich. Doch was, wenn ich es nicht schaffe? Wenn ich versage? Oder wenn ich es einfach nicht kann? Bitte, zeig mir wie, Sara.

Live Again - Berühre mich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt