• i can't go on without you - kaleo •Colin
Ich will nicht sagen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Aber ich hoffe so sehr darauf. Wenn es Gewissheit darüber geben würde, dann würde mich dieses Wissen unendlich beruhigen.
Manchmal gibt es Tage, die mir ein Lächeln schenken können. Das sind solche, an denen ich draußen bin und die Sonne in mein Gesicht scheint, obwohl ich dann immer meine Cap aufsetze, damit sie mich nicht blendet.
Heute scheint die Sonne, das ist mir nicht entgangen. Aber es ist dennoch kein schöner Tag. Vor zwei Jahren habe ich meine eigenen Entscheidungen getroffen, war unbekümmert und konnte tun, was ich wollte. Das Ganze kann ich heute zwar immer noch tun, keiner hält mich auf. Aber die Wahrheit ist: ich schaffe das Alles nicht mehr.
Jeden verfluchten Tag werde ich beim Laufen, beim Sitzen und beim Liegen daran erinnert, dass mein Körper im Arsch ist. Ich will mich nicht beschweren, immerhin habe ich den Unfall vor zwei Jahren überlebt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich völlig eingeschränkt in meinen Taten bin.
Ich bin sauer auf meine Eltern, dass sie in eine andere Stadt wollten. Sie sagen, es wäre wegen der Arbeit, aber ich weiß, dass es wegen mir ist. Ich gebe zu, ich bin nicht der Fröhlichste von allen, aber darf man das wirklich von mir erwarten?
Sie denken, dass ein Tapetenwechsel mir guttun würde, wenn schon die Selbsthilfegruppe nichts gebracht hat. Wie jeder andere Mensch bin auch ich nicht mit einem Lächeln dort hingegangen und habe meine Geschichte direkt bei der ersten Sitzung erzählt. Auch nicht bei der zweiten. Eigentlich gar nicht.
Und jetzt ist hier kein Friedhof in unmittelbarer Nähe, auf dem Sara liegt. Ich kann sie nicht besuchen und das war oft das Einzige, woran ich denken konnte. Es war auch das Einzige, was mir nach dem Unfall noch einen Sinn gegeben hat.
Ich atme schwer aus und stelle den Karton in meinem neuen Zimmer ab, während ich den Blick durch den Raum schweifen lasse. Er ist groß genug, um meine Sachen unterzubringen. Eine Wand ist bereits dunkelblau gestrichen und ich habe entschieden, dass ich die Farbe so lassen werde.
Aus dem Zimmer von meinem Bruder höre ich auf einmal laute Stimmen, was mich neugierig macht. Ich stelle mich in den Türrahmen und beobachte Kaden und einen anderen Jungen, wie sie sich irgendetwas über Legoflieger erzählen.
Als mein Bruder mich bemerkt, lächle ich. »Hi, Colin«, sagt er und zeigt auf den anderen Jungen, »das ist Josh. Er meinte, er hat auch einen Legoflieger und wir wollen den gleich zusammen aufbauen gehen.«
Josh sieht auf und begrüßt mich ebenfalls, ehe er sich wieder dem Lego zuwendet. Ich lache über die beiden und stoße mich vom Rahmen ab, um nach unten zu gehen und die nächste Kiste zu schleppen. Dabei begegne ich Mr. und Mrs. River von gegenüber und meinen Eltern, die sich vor der Haustür unterhalten.
»Sind es noch viele Kartons, Colin?«, fragt meine Mutter und unterbricht somit das Gespräch.
Ich schüttele den Kopf und laufe um sie herum, doch mein Vater legt mir eine Hand auf die Schulter. »Sag Bescheid und ich helfe dir«, raunt er leise und zieht die Augenbrauen hoch.
Am liebsten würde ich lachen, und das tue ich dann auch. Ich lache, weil es einfach zu absurd ist. Mein Vater lässt von mir ab und räuspert sich. Dann gebe ich ihm ein belustigtes Lächeln und schleppe die nächste Kiste in mein Zimmer.
»Colin«, ruft Kaden und steht schon aufbruchsfertig in meinem Raum. »Ich gehe jetzt zu Josh.« In der Hand hält er seinen Flieger und tut so, als würde das Flugzeug tatsächlich fliegen.
Ich gebe ihm nur ein Nicken und wende mich dann ab. Mom und Dad werden ihn eh unten noch einmal abfangen, um ihn über seinen nächsten Plan auszuquetschen.
Mit einem Seufzer setze ich mich auf mein Bett und verziehe sofort das Gesicht. Es ist nicht einmal so, dass mein Körper durchgängig wehtut, aber ich spüre es trotzdem. Oft ist es nur ein Stechen, das sich durch meinen Körper zieht. Manchmal auch ein plötzlicher Schmerz, als hätte mir jemand in die Seite geboxt.
Ich öffne den Karton neben mir auf der Matratze und entnehme ihm einen Bilderrahmen. Eine lange Zeit halte ich diesen einfach nur in den Händen und starre auf das Foto. Es zeigt Sara und mich, wie ich ihr einen Arm um die Schulter lege und sie in die Kamera grinst, während ich meinen Kopf zu etwas abgewendet habe, was in diesem Moment anscheinend wichtiger war als dieses Bild.
Ein amüsiertes Schnauben entflieht meiner Kehle, als ich mich mit sechzehn Jahren sehe. Die Haare waren länger, ich war um ein paar Zentimeter kleiner und meine Schultern schmaler. In den letzten Jahren musste ich ständig zur Physiotherapie, um meinen Oberkörper aufrecht zu erhalten. Das Training oder wohl eher gesagt, die Übungen, haben meinen Körper geformt.
Anders würde ich in mich zusammensinken.
Mein Blick schwenkt ein paar Millimeter nach links und verharrt bei dem Mädchen mit den hellblonden schulterlangen Haaren. Ihre Augen waren dunkelblau und hatten immer diesen bestimmten Glanz, der mich zum Lächeln brachte. Ihre lebensfrohe Natur steckte mich immer wieder aufs Neue an. Ich vermisse das.
Ich atme tief aus und stelle das Bild auf meinen Nachttisch. Ihre Eltern gaben mir nie die Schuld an ihrem Tod. Ich bin auch nicht schuld daran, das weiß ich. Niemand konnte es ahnen. Und nach zwei Jahren weiß ich noch immer nicht, wie der Taxifahrer in dem entscheidenden Moment gehandelt hat.
Ich bezweifele, dass ich es irgendwann noch wissen werde.
Dennoch kommt in mir ständig die Frage auf, wieso ich noch am Leben bin und Sara und der Fahrer nicht. Aber auf manche Fragen kennt das Leben nun einmal keine Antworten, weshalb man sich mit seiner eigenen Vorstellung zufriedengeben muss.
Nur ist es so, dass meine Vorstellungen scheiße sind.
Schritte ertönen auf einmal im Flur und meine Mutter erscheint am Türrahmen. Ihr Blick schweift einmal komplett durch den Raum, heftet sich an die Kartons und schließlich an die dunkelblaue Wand. »Die kann gestrichen werden, wenn du möchtest.«
Ich schüttele den Kopf.
»Es wird leichter, Colin«, sagt sie, »ich weiß nicht, wie du dich fühlst, aber ich kann es mir vorstellen und es ist schrecklich.«
Ich antworte nicht.
»Es sind zwei Jahre, du hast getrauert und Zeit gehabt, es zu verarbeiten. Irgendwann musst du wieder aus deiner selbsterrichteten Burg austreten und dich umschauen. Das Leben besteht nicht nur aus grauen Mauern und Verliesen.«
Ich räuspere mich.
»Drei weiße Wände, eine blaue – nimm das als Fortschritt, Colin, und sieh dich um«, weist sie mich leise darauf hin und läuft die Treppe wieder herunter.
Mit zusammengekniffenen Augen mustere ich die dunkelblaue Wand und würde sie am liebsten sofort mit weißer Farbe übermalen.
Ich stehe auf und ziehe mir meinen Pullover über den Kopf. Eine lange Autofahrt mit anschließender Anstrengung lassen Klamotten nicht mehr wirklich gut riechen. Den Pullover werfe ich in eine Ecke und suche den Karton mit meinen Shirts. Als ich ihn dann finde, ziehe ich dort ein weißes Shirt und einen schwarzen Pullover heraus.
Schwer entweicht mein Atem, als ich an mir herunterblicke. Ein schwarzes Gestell umklammert die obere Bauch- und untere Brustkorbregion. Es soll helfen, dass mein Oberkörper aufrecht ist; dass ich nicht einklappe und meine inneren Organe dabei beschädige.
Ich hasse dieses Teil.
Vorsichtig löse ich die Schnallen, um es abzulegen und mir einen kurzen Moment der Freiheit gönnen zu können. Wenn ich schlafe, darf ich das Gestell ablegen, da ich mich dann in einer waagerechten Position befinde.
Nach ein paar Sekunden schnalle ich mir das Teil wieder um, ziehe mir das frische Shirt und den Pullover über und begebe mich auf den Weg nach unten.
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Live Again - Berühre mich nicht
RomanceAls Taschenbuch und E-Book auf Amazon erhältlich! Sie ist eine tickende Zeitbombe - er ein ruhiger Ozean, unter dessen Oberfläche sich so viel mehr bewegt, als mit bloßem Auge zu erkennen ist. Wegen eines Schulprojekts sind Harley und Colin dazu ver...