2| alles das gleiche

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some things never change - marc e bassy

Harley

»Harley, stell die verdammte Musik leiser«, ruft eine Stimme durch das Haus direkt in mein Zimmer.

Ich ignoriere sie. Ich ignoriere sie genau wie die anderen Dinge in letzter Zeit. Ich drehe die Musik weiter auf und lehne mich in meinem Bett zurück. Musik bedeutet Leben und Leben bedeutet Licht. Das wiederum bedeutet keine Dunkelheit. Und Dunkelheit möchte ich nie wieder zu spüren bekommen.

Ich höre schwere Schritte auf der Treppe, kurz danach wird meine Tür aufgerissen. »Harley. Stell die Musik leiser«, bittet mich mein Vater. Mein Blick ist an die Decke gerichtet und ich ignoriere ihn. Mal wieder. »Harley, hey. Es ist schon spät am Abend, die Nachbarn wollen schlafen.«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll, also drehe ich mich von ihm weg. In meinen Augen sammeln sich Tränen, die darauf warten, freigelassen zu werden. Meine Matratze senkt sich ein Stück und eine Hand berührt leicht meine Schulter, doch ich entziehe sie ihm. Berührungen tun weh. Sie tun so verdammt weh. Und jetzt ist der Damm gebrochen. Die Tränen strömen nur so meine Wangen hinunter und landen in einem kleinen Teich direkt auf dem Bettlaken.

Mein Vater redet beruhigend auf mich ein, aber versucht nicht, mich noch einmal anzufassen. »Weißt du was? Du bist das stärkste Mädchen, was ich kenne. Du hast so viel von deiner Mutter, du schaffst alles, was du willst, Harley. Deine Güte ist so groß, dass jeder Mensch auf dieser Welt hineinpasst, auch die, die es nicht verdienen. Deine Lebensfreude macht dich zu dem Menschen, der du bist und keiner kann daran etwas ändern. Keiner kann das, verstanden?«

Seine Worte bringen mich leicht zum Lächeln und ich schaue ihn an. Ich bin ihm so unendlich dankbar für all seine Geduld und für all sein Verständnis.

»Du solltest jetzt schlafen gehen. Morgen ist ein neuer Tag. Ich werde im Flur das Licht anlassen und deine Tür offen«, verspricht er leise, erhebt sich und geht aus meinem Zimmer.

Das Licht aus dem Flur wirft einen hellen, langen Kegel auf den Boden in meinem Zimmer und erinnert mich daran, dass es Dunkelheit nur wegen der Helligkeit gibt.

Ich stelle die Musik leiser und konzentriere mich auf meinen regelmäßigen Herzschlag.

Poch poch, Pause, poch poch, Pause, poch poch. Pause.

Das Sonnenlicht kitzelt meine Nase, die Sonnenstrahlen erhitzen meinen Körper unter der Bettdecke und bringen mich dazu, diese von mir zu schieben. Der Wecker zeigt elf Uhr vormittags an. Regungslos bleibe ich liegen und lausche meiner regelmäßigen Atmung.

Meine Eltern hantieren unten in der Küche – das lässt das Klappern der Töpfe jedenfalls vermuten. Für einen kurzen Moment schließe ich noch einmal meine Augen, versuche mich innerlich auf den heutigen Tag vorzubereiten und öffne sie schließlich wieder mit einem leisen Seufzer. Es wird nichts bringen, früher oder später muss ich sowieso aufstehen.

Ich greife nach einem großen Hoodie, welchen ich mir mit einer schnellen Bewegung überziehe, um damit meine Handgelenke zu verstecken. Mit Flauschesocken an den Füßen öffne ich meine Zimmertüre und laufe die Treppe hinunter und in die Küche.

Überrascht stelle ich fest, dass nur meine Mutter am Tisch sitzt und Kartoffeln schält. »Morgen«, murmele ich und hole mir eine Tasse aus dem Schrank, um sie mit Milch und Kakaopulver zu füllen.

»Morgen?«, lacht meine Mutter und wirft mir einen kurzen Blick zu, »Mittag trifft es eher.«

Ich verdrehe die Augen und setze mich ihr gegenüber. »Morgen, Mittag, Abend – alles das Gleiche.«

Live Again - Berühre mich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt