Melanie wagte es nicht, sich zu rühren. Den Körper verkrampft und den Atem angehalten wartete sie nur darauf, wieder gepackt zu werden, zurück ins Chaos. Wie konnte es einfach so vorbei sein? Erst, als ein schmerzhaftes Ziehen an ihrer Hüfte sie auf akuten Sauerstoffmangel hinwies, ließ Melanie die Anspannung fallen und spürte verblüfft, wie eine ruckartige Bewegung an ihren Seiten das Leiden heilte. Ohne auf ihre Umgebung zu achten inspizierte sie in verdrehter Position den Ursprung der Bewegung, zunächst auf die rechte Seite fokussiert. Dort fand sie drei Schlitze, von Hautlappen bedeckt, die in gleichmäßigem, schnellem Rhythmus auf und zu schwangen. Waren das etwa... Verärgert hielt sie inne. Wie lautete das Wort? Das, womit Fische atmeten? Es fiel ihr nicht ein, ihr Kopf war gefüllt mit einem grauen, zähen Brei, der alles Wissen verschlungen hatte.
Von einem wilden Trotz ergriffen hob Melanie den Blick und saugte jedes Detail ihrer Umgebung in sich auf. Sie würde ihre Antworten schon noch finden.
Die unfreiwillige Meerjungfrau war auf magische Weise der düsteren Tiefsee entkommen. Ein enges Netz, das sich um ihren Brustkorb gewickelt hatte, löste sich beim Anblick warmer Sonnenstrahlen, die sie sanft kitzelten. Obwohl weder die bunten Fische noch die wenigen Algen, die auf einem verwitterten Felsen Halt gefunden hatten, in ihr Erinnerungen wachriefen, fühlte sie sich zuhause. Vor ihr erstreckte sich eine endlose Wüstenlandschaft, durchbrochen von Gestein und zum Leben erweckt von Meerestieren, die sie nicht beim Namen nennen konnte. Nur das Wort „Fisch“ hatte sich hartnäckig in ihrem Gedächtnis festgeklammert. Melanie konnte die Wasseroberfläche nicht erkennen, sie durfte aber nicht weit über ihr liegen. Schließlich war es hier taghell. Was war das nur für eine seltsame Gegend, so flach mitten im Meer? Diesmal schafften die Fragen es nicht, sie unruhig zu machen. Stattdessen wuchs in ihr ein unwiderstehlicher Drang, so süß und verführerisch in ihrem Herzen, dass sie sich augenblicklich in Bewegung setzte. Dem Licht entgegen. Bald würde der Tag zur Nacht werden, dann wäre es zu spät für einen Blick über die Oberfläche. Vielleicht, sogar wahrscheinlich, gab es dort nichts zu sehen als Wasser. Aber was, wenn der weite Horizont den Blick auf Land freigeben würde oder ein Schiff? Die Worte des Unbekannten kamen ihr wieder in den Sinn, füllten mächtig ihren Kopf aus und gaben ihr Halt.
„Nur auf deinem eigenen Weg, Seite an Seite mit deiner Gefährtin, bist du sicher.“
Eine Gefährtin finden. Wie sollte das funktionieren? War es Spott, weil der Ozean so endlos und Artgenossen so unerreichbar weit weg lebten? Sprach der Unbekannte am Ende gar von einem Fisch?
Ein anderer Gedanke ließ sie abrupt anhalten, die Stirn runzeln. Es bereitete ihr keinerlei Anstrengung, jedes Wort der Unterhaltung zu rekonstruieren, als hätte sie den Dialog vor sich liegen wie den Text eines Schauspiels.
Louisa riss sich zusammen. Wie dem Drang widerstehen, die Kontrolle loszulassen und den Schrei, der in ihrer Kehle steckte, zu befreien?
„Nom“, formten ihre Lippen lautlos. Wo blieb der kleine Delfin nur? Bis zum Strudel hatte er sie begleitet, hatte ihre haltlos tobenden Gedanken gefüllt mit Wörtern und Ruhe. Wieder und wieder rief Louisa sich alle Informationen ins Gedächtnis, die er ihr gegeben hatte. Sie waren der einzige Halt, die einzige Sicherheit. Obwohl es auch Lügen sein könnten. Das Misstrauen, das sie Nom gegenüber empfand, saß zu tief, um sich vertreiben oder beruhigen zu lassen. Nichtsdestotrotz umklammerte sie das Wissen wie einen Rettungsring. Es musste einen Sinn haben, dass der Delfin nicht von ihrer Seite hatte weichen wollen. Er war überhaupt das erste lebendige Wesen, das seit ihrem Erwachen am Strand, den Kopf leer und die Kehle ausgetrocknet, mit ihr geredet hatte.
Ich bin eine Mérand'é... Was auch immer das ist.
Ich bin durch einen Strudel in eine andere Welt gelangt, zu meinem Herkunftsort.
DU LIEST GERADE
Ozeanblau: Schattenkönigin
Fantasy„Wenn du dein Leben lang im Schatten stehst, sehnst du dich nach nichts mehr als nach dem Licht." Ihrer Erinnerungen beraubt und im Körper von Meerjungfrauen erwacht suchen Melanie und Louisa nach Wahrheiten. Ihrer Macht beraubt und in dunklen Tief...