1. Erste Schwimmzüge

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Diese Geschichte beginnt mit einem kleinen Niesen. 

Ein kleines Niesen und Augen, die sich langsam öffnen, als wären sie noch nicht recht bereit für das, was sie gleich erblicken würden.

„Wo bin ich?", war ihr erster Gedanke. Langsam ebbte das Kribbeln in ihrer Nase ab, sie roch Salz. Der durchdringende Schrei eines Vogels ließ sie zusammenzucken, eine Windböe jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Als sie den Kopf hob, schoss ein stechender Schmerz durch ihren Nacken, der ihr ein leises, gequältes Stöhnen entlockte. Kurz verharrte sie so, die Augen wieder zusammengekniffen, beide Arme ausgebreitet auf einer weichen und unebenen Fläche. Sie musste auf dem Bauch geschlafen und sich dabei den Nacken verspannt haben. Wieder durchdrang ein entferntes, helles Kreischen die Stille. Wo war sie? Ihr Atem stockte, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Melanie lag an einem Strand. Überall war Sand, so fein und hell, dass er fast unwirklich schien. Möven flogen vereinzelt am Himmel, es hörte sich so an, als würden sie Alarm schlagen. 

„Alarm, ein Mensch in unserem Revier! Alarm!" ...oder so ähnlich.

Warum zur Hölle hatte sie an einem Strand geschlafen? Ohne Zelt, ohne warme Kleidung? Wie war sie hierher gelangt? Sie fand keine Erinnerung in ihrem Kopf, die Antwort auf die Fragen gegeben hätte. Ächzend stützte sie sich auf ihre nackten Unterarme und reckte den Hals, auf der Suche nach jemandem, der vielleicht mit ihr diesen blöden Strand besucht hatte. Keine Menschenseele war hier, eigentlich nicht verwunderlich bei diesem Wetter. Bedrohlich dunkel hingen Wolken am Himmel und kündeten ein Gewitter an. Mindestens. Als wollten die Wellen sich der vorahnenden Stimmung anpassen, schwappten sie stürmisch, aber monoton ans Land. Mit jeder Welle wurde ein kleines Stöckchen gebeutelt, nach vorne geschwemmt und dann doch wieder mitgezogen. Wie hypnotisiert verfolgte sie die Bewegung des völlig durchweichten Holzstücks, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nach einer Weile löste sich ihr Blick davon, inspizierte erneut die Umgebung. Die Fragen waren so laut in ihrem Kopf, dass sie alle anderen Überlegungen übertönen wie ein Orkan den schwachen Schrei eines Babys. Warum nur war sie hier, an einem fremden, verlassenen Strand? Wo waren ihre Erinnerungen geblieben? Gefangen in wachsender Unruhe und getrieben von dem Drang, etwas zu tun, winkelte Melanie ihre Beine an und versuchte, sich aufzurichten. Das Anwinkeln funktionierte noch, aber auf die Füße kam sie nicht. Ein plötzlicher Schmerz an den Knien raubte ihr den Atem, unterbrach das Vorhaben. Melanie krümmte sich und ächzte gequält. Ihre Stimme klang seltsam in ihren Ohren, als würde jemand völlig Fremdes zu ihr sprechen. Mit dem schwindelerregende Gefühl, nun erst die Ausmaße der Situation zu begreifen, testete sie ihre Stimmbänder zuerst schüchtern mit einem gehauchten „Hallo?". War das wirklich sie selbst, konnte sie nicht einmal ihre eigene Stimme wiedererkennen? Beunruhigt begann Melanie, ihre Zunge mit ihren Zähnen zu malträtieren. Ihr Kopf war wie leergefegt. Angestrengt versuchte sie, sich an irgendetwas zu erinnern, einen Begriff, eine Zahl, einen Namen... Nichts. Niemanden, den sie kannte, keine Information über ihr Leben, ihren Wohnort, ihre Identität! Mutlos senkte sie den Kopf auf den kalten Sand, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Nein, so schnell würde sie nicht einknicken! Sie musste nur Ruhe bewahren, die Kontrolle umklammern wie einen lebensrettenden Anker. Energisch blinzelte sie die Tränen weg, doch der Kloß in ihrem Hals verschwand nicht.

Ob sie verletzt war? Mit einiger Anstrengung wälzte sie sich auf den Rücken und setzte sich auf, um ihre Knie zu inspizieren. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, als sie keine Beine vorfand.

„AAAH!"

Panisch gruben ihre Hände sich in den Sand, schoben sie nach hinten, nur weg von diesem Ding. Sie keuchte und wurde immer schneller, aber es folgte ihr. Das durfte nicht wahr sein! Mit zitternden Armen hielt sie inne, ihre Handflächen pochten. Auch das grün schimmernde... Etwas hörte auf, sich zu bewegen. Sofort verknüpfte ihr Gehirn diese Sinneswahrnehmung mit einer Erinnerung, die aus dem Nichts auftauchte. Eigentlich war es nur ein Name, woher er kam und welche Person er darstellte, kam ihr nicht in den Sinn. Arielle. Die Tränen kamen zurück, verwischten ihren Blick. Was war hier los? Wo waren ihre Beine? Und warum wurden sie durch... eine Flosse ersetzt?

Ozeanblau: SchattenköniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt