Kleines Mädchen

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Ich starrte auf mein Handy. Nur noch 20 % akku aber ich konnte es nicht aufladen da er nur Apple Ladekabel hat.
Sein Zimmer war klein, sehr klein.
Die Wände waren weiß aber über dem Bett hing eine riesige Flagge eines Fußballvereins den ich nicht kannte.
Über den Holzboden lagen überall Klamotten, Hefte, Schuhe, Socken und Chipskrümel verteilt.
Im ganzen Haus hing dieser fremde Geruch den man riecht wenn man bei Leuten ist die man noch nicht so gut kennt.
Es war eine Mischung aus Waschmittel und einem Hauch Zigaretten da seine Eltern beide rauchen.

Ich saß auf dem Bett wie eine Fremde, traute mich nicht mal mich hinzulegen oder irgendetwas zu tun auch wenn ich hier schon einige Male war.
Ich habe schon neben ihm geschlafen, zummindest nur halb da ich meistens viel zu aufgekratzt war und seinen warmen Atem im Nacken spüren konnte.

Es war angenehm warm im Raum. Die Uhr zeigte halb eins in der Früh an.
Ich konnte nichts machen.
Die Uhr tickte, draußen fuhr kein Auto, die Stille war unerträglich.
Er sollte schon längst zurück sein, so hat er es mir versprochen.
Ich stand auf und ging mit vorsichtigen Schritten zu der Nachttischschublade.
Normalerweise bewahren Menschen dort ihre geheimsten Schätze auf oder haben sonst wo in ihrem Zimmer einen Geheimplatz.
Er hat gar nichts.
Weder ein anspruchsvoller Roman der zeigt das er in Wirklichkeit intelektuell ist, weder irgendwelche Bilder von Freunden, weder Erinnerungsstücke die keiner versteht außer er selbst.
Das einzige was er in der Schublade liegen hat sind Päckchen mit Shisha Tabak und seine nervigen Apple Ladekabel die überall auftauchen wo man nur hinschaut.
Auf dem Flur hängt ein Kinderbild von ihm, einer der wenigen Fotos die es überhaupt von ihm gibt.

Er hasst es Bilder von sich zu machen da er Angst hat dass zu viele Weiber sie abfotografieren würden .
Das ist gelogen, in Wirklichkeit vergleicht er sich immer ständig mit größeren und krasseren Typen und findet sich hässlich.
Zum Beispiel macht er die wenigen Bilder von sich die er auf Snapchat postet auch nur eine Sekunde und löscht sie nach einer Stunde.
Für mich ist er der wunderschönste Mensch auf der ganzen Welt.

Viertel vor eins.
Die Stille machte mich wahnsinnig.
Seine Eltern schlafen im Raum schräg gegenüber, sie wissen nicht das ich da bin.
Sie wissen nichtmal dass es mich gibt.
Ich habe sie auch noch nie gesehen.

Normalerweise stehe ich wenn ich hier bin um 6 auf und gehe dann zu Sarah rüber, kletter in ihr Zimmer hoch und penne da weiter bis meine Mutter mich mittags holen kommt.
Dann fragt sie mich immer ganz aufgeschlossen was Sarah und ich denn Schönes gemacht haben  und ich antworte
"Nix besonderes".
Zuhause gibt es dann von Papa mit Liebe gemachtes Mittagessen und ich bekomme nix runter.

Ich atme ein und aus.
Die Zeit vergeht und nix passiert.
Vielleicht ist er ja schon unterwegs und braucht nur lange weil er zufuß ist.
Das ist es bestimmt. Er ist doch schon fast 18 warum macht er denn keinen Führerschein?
Ich würde es sofort machen aber ich muss ja noch einige Jahre warten bis es soweit ist.

Ich stand auf und schaute auf die Flagge dieses verdammten Fußballvereins.
Nein.
Ich machte so leise wie möglich die Tür auf und ging so leise wie möglich durch den kleinen Flur.
Das einzige was mich daran erinnerte dass ich nicht alleine war, war das Schnarchen seines Vaters was man durch die Tür hörte.

Ich frage mich manchmal wie seine Eltern so sind, Ob sie im ähnlich sehen, ob sie mich mögen würden.
Ich ging die Treppe runter in das Wohnzimmer Richtung Haustür und starrte nervös atmend auf den Boden.
Ich nahm mir meine Jacke und zog sie mir wie in Zeitlupe an.
Was bringt mir das jetzt?
Wo will ich hin?
Sarah ist im Urlaub, morgen früh holt mich Mama bei Jasmin ab und die wohnt weiter weg.
Er wollte mich mit dem Fahrrad morgens dort hinbringen.
Entschlossen mache ich die Tür auf und trat in die Finsternis.

Überall waren die stockdunklen, kleinen Familienhäuser und lediglich die Straßenlaternen spendeten Licht.
Mein Akku hatte 15 %.
Genau ein Uhr Morgens.
Kein Geräusch, keine Menschen, nichts.
Ich zitterte, Atemwölkchen kamen aus meinem Mund.
Ich hatte ihn vorhin schon einmal angerufen aber er ging nicht ran und ich wollte ihn nicht nerven.

Um mich etwas zu bewegen ging ich die Straße entlang und hatte keine Ahnung wohin. Ich weiss nicht wo er ist, ich kenn mich nichtmal selber sehr gut in der Gegend aus.

Orientierungslos wanderte ich durch die Kälte und wusste nach einer ungewissen Zeit nicht mal mehr in welcher Straße ich war.
Ich ließ mich auf den vereisten Bordstein sinken und merkte wie mir Tränen in die Augen stiegen, ich heulte zwar nicht aber die Tränen liefen mir trotzdem ununterbrochen über mein vor Frost taubes Gesicht.

Meine Nase lief und ich hätte am liebsten meine Mama angerufen und ihr alles erzählt.
Aber das konnte ich ihr nicht antun.
Ich bin kein kleines Mädchen mehr.
Für sie zummindest nicht.

Also blieb ich sitzen und rief nicht Mama sondern ihn an.
Nach zweimal Piepen ging er sogar ran.
Mein Herz machte einen Hüpfer.
"Wo bist du?"
Krächzte ich und versuchte nicht verheult zu klingen.
Ich hörte Lachen und Grölen und hörte etwas wie "Bei Lucas" heraus.
"Ich bin schon auf dem Weg, keine Sorge"
Sagte er als letztes und legte dann auf.
Ich lächelte.
Er war unterwegs, er hat doch noch an mich gedacht.

Ich weiß nicht wie lange ich auf diesem arschkalten Bordstein gesessen habe, irgendwann sind mir die Tränen auf den Wangen eingefroren und ich habe nicht mal mehr meine Zehen gespürt.
Ich war alleine.

"He"
Ich erkannte seine Stimme sofort und schaute müde hoch. Sofort musste ich lächeln. Er auch.
"Was machstn du hier?"
Nuschelte er.
Ich hörte und roch vor allem das er mal wieder getrunken hat.
Ich winkte ab.
"Nix besonderes. ich äh..."
Er zog mich hoch und legte einen Arm um mich.
"Is schon was gefährlich hier, so ganz allein"  Brummte er und ich rückte etwas näher an ihn. Er war ebenfalls zugefroren.
"Lass wieder zu mir"
Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln und hoffte das man im Licht der Laternen nicht die Ränder der Tränen sah.
"Ja lass wieder zu dir"

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