01. Pechschwarz

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10.01.2017

Lieber Elias,

es gelingt mir nicht meine Traurigkeit zu besiegen. Ich weiß nicht warum ich einfach nicht nach vorne schauen kann. Siebzehn Jahre trauere ich schon, aber es ist noch der gleiche Schmerz, der mein Herz eisern umklammert hält. Gefangen bin ich, in meinem eigenen Körper. Mein Herz ist ein Vogel und meine Rippen sind sein Käfig. Ich möchte ihn aufschließen und den Vogel befreien. Er soll der Sonne entgegenfliegen, den Wind über sein Gefieder streichen hören und nie wieder zurückblicken. Aber du bist der Schlüssel zu seiner Freiheit und der Käfig wird sich erst öffnen, wenn du nur noch meine liebste Erinnerung bist und nicht mehr die verwischte Tinte auf diesem Papier. Verzeih mir Elias, ich weiß du wolltest nicht gehen, aber seitdem du fort bist ist dieses Leben nur eine Nuance zwischen Leere und Leiden.

Als ich vor ein paar Tagen meinen Schrank aufräumte, fand ich ein Kleid. Dieses eine Kleid, das ich vor fast achtzehn Jahren an einem schneebedeckten Novembertag trug. Pechschwarz ist es, wie die Farbe, die seither um mich tanzt. Ich habe das Kleid am Tag deiner Beerdigung getragen.

Meine Finger strichen über den Stoff und mir war, als wäre es gestern gewesen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir dicht nebeneinander vor deinem Grab standen. Mutter, Vater und ich, Oma Gerda, Tante Rosa, Onkel Nils und Onkel Julius, Emily, Paul, Marvin, Mathilda und Hanna, Jounas; dein Freund aus dem Krankenhaus, Ida und Anton. Alle trugen Schwarz. Hanna jedoch, hatte sich die Haare weiß gefärbt. Ich wusste nicht ob ich es skurril finden sollte oder ob es ein Lichtblick war; ein kleines Lächeln unter Tränen. Der Priester hielt eine kurze Rede und anschließend sprach er ein letztes Gebet. Dann legte jeder eine Rose auf deinen Sarg. Irgendwie fühlte sich alles so surreal an. Ich konnte nicht glauben, dass du in diesem Sarg liegen solltest. Fast erwartete ich, dass du mir gleich auf die Schulter tippen würdest und fragen würdest, wie ich nur glauben konnte, dass dich etwas so schnell umgehauen hat. Aber als Jounas für ein paar Abschiedsworte vortrat, wurde mir bewusst, dass das hier die Realität war. Er räusperte sich, um seine Stimme wiederzufinden und fing dann an zu sprechen: ,,Ich habe Elias nicht lange gekannt. Zwei Monate sind wenig und wir wussten nicht viel voneinander abgesehen von dem, was in unserer Krankenakte stand. Aber diese kurze Zeit reicht mir, um sagen zu können, dass Elias einer der Besten war.

Als wir uns kennenlernten hatte ich zum dritten Mal Krebs und die Ärzte stellten mich vor die Wahl: entweder würde ich meinen rechten Arm verlieren oder mein Leben. Ich wollte damals nicht mehr kämpfen und weigerte mich die Amputation machen zu lassen. Einen Tag nachdem die Ärzte mit meinem Vater und mir gesprochen haben, sind Elias und ich uns im Fahrstuhl zwischen unseren Stationen begegnet; ich hatte eine Glatze, weil mir durch die anfängliche Chemotherapie die Haare ausgefallen sind und Elias war so bleich, dass seine Haut in dem fahlen Licht der Aufzuglampe schimmerte", auf Jounas' Gesicht erschien ein flüchtiges Lächeln, ,,meistens hat man sich da nicht viel zu sagen. Und doch, ich weiß nicht warum ich es tat, habe ich ihm die ganze Geschichte erzählt. Als er antwortete, war seine Stimme nur ein Flüstern, aber er ließ sich davon nicht abhalten und fragte lediglich, wie sehr ich gelebt hätte. Mit so einer Antwort rechnete ich nicht und sah ihn ziemlich verständnislos an. ,,Wie viele deiner Träume hast du dir erfüllt?", wollte er wissen. ,,Keinen Einzigen, seit ich Sechs bin pendle ich zwischen meinem Zuhause und dem Krankenhaus." Elias sah mich fest an und sagte diesen einen Satz, den ich nie vergessen werde: ,,Auf dich wartet ein ganzes Leben, das du einfach wegwerfen willst für Nichts, denn das hält der Tod für dich bereit und trotzdem möchtest du gehen ohne auch nur ahnen zu können, was dir das Leben fernab dieser leeren, weißen Wände bietet." Dieser Satz brachte mich dazu noch einmal über alles nachzudenken und der Amputation zuzustimmen. Und deshalb war Elias einer der Besten, weil er mich anhand eines Satzes daran erinnert hat, wie wertvoll Leben ist. Jetzt habe ich einen Arm verloren, aber ich habe ein glückliches Leben gewonnen. Und dafür werde ich dir immer dankbar sein, Elias. Vielleicht findest du deinen Frieden durch das Wissen, dass unser Glück die Zeit bleibt, die wir mit dir erlebt haben." Jounas verstummte und faltete mit zitterigen Händen das Papier mit seinen letzten Worten an dich zusammen; eine Träne tropfte rauf. Genau in dem Moment, wo er das Papier auf den Sarg legte, geschah etwas Besonderes. Die erste Schneeflocke dieses Jahres fiel auf deinen Sarg. Ihr folgten unzählige Weitere. Und als du in die Erde gelassen wurdest, hatten die weißen Flocken kleine Muster auf das schwarze Holz gemalt. Da begann ich zu weinen, weil es das bittersüßeste Kunstwerk war, das nur gemalt werden kann und weil ich wusste, wenn du es von irgendwo gesehen hast, hast du gelächelt.

Ach Elias, es tut so weh dich nicht mehr hier zu wissen und ich weiß, dass es nicht fair ist auf dich wütend zu sein, aber ich bin es. Ich bin so voller Wut, weil du so früh gestorben bist, weil mein Leben ohne dich kalt und trostlos ist, weil Mutters Augen seitdem du fort bist nie wieder voller Liebe gewesen sind. Aber ich bin auch wütend auf mich, weil ich nicht stärker als dieser Schmerz bin.

Ich wünschte ich könnte mich daran erinnern, wie sich deine Umarmungen angefühlt haben.
Ich wünschte wir könnten noch einmal Kinder sein.
Ich wünschte wir wären noch -
Oh, wie sehr ich das wünschte...

In Liebe,
Frieda

Auf bloßen Füßen schlurft Frieda zum Bett. Sie bückt sich und zieht die schwere Truhe darunter hervor. Nach ein paar vergeblichen Versuchen lässt diese sich öffnen. Das Herz wird ihr ganz schwer, als sie die einzigen Dinge, die in der Kiste liegen, betrachtet; sieben leere Plastiktütchen, in denen einst Farbpulver gewesen war. Elias hatte hier seine bunten Fäden nie wirklich sammeln können. Deshalb würde Frieda alle besonderen Sachen, die sie an ihn erinnern in dieser Schatzkiste aufbewahren, und damit die Spuren seines Lebens nie verschwinden. Sorgfältig faltet sie das schwarze Kleid aus ihrem Schrank und legt es neben die Farbpulvertütchen in die Truhe. Danach verschließt Frieda sie wieder und langsam verschwimmt ihre Sicht.

Die bunten Fäden des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt