Atavistisches Lesevergnügen: Brauchen lange Texte herkömmliche Verlage?

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Die Welt verblödet vor lauter Tweets aus 140 Zeichen, Kurznachrichten von ununterbietbarer Banalität, glauben manche. Für Evan Ratliff ist es genau anders herum. „Wir erleben eine neue Blütezeit der Literatur - die meisten Verlage haben das nur noch nicht bemerkt", sagt er. Über seinem Büro donnern U-Bahnen über die Manhattan Bridge. Dies ist das Zentrum der "Silicon Alley"  in New York, der Ostküstenvariante der kalifornischen Digitalwirtschaft.

Hinter Ratliff hängt ein Poster mit einem Bild von Hunter S. Thompson, dem großen Reporter der Sechziger Jahre.

Evan Ratliff ist selbst auch Journalist, er wurde bekannt, als er 2009 für das Magazin „Wired" eine Zeitlang verschwand. Ratliff war irgendwo in den USA untergetaucht und veröffentlichte nun Fotos von sich und seinem Aufenthaltsort. Die Leser sollten versuchen, ihn anhand dieser Indizien aufzuspüren wie bei einem Räuber- und Gendarm-Spiel. Nach wenigen Wochen hatten sie ihn.

Doch damit fing für Ratliff die Geschichte erst an. Er hatte viel mehr Material, als er in seinem Artikel im gedruckten Magazin unterbringen konnte. Er träumte von einem neuen Medium, das sich dem Text anpasst, nicht umgekehrt. Mit zwei Kollegen gründete er einen Verlag namens „Atavist". Als ich ihn 2012 besuchte, saßen bereits sieben Mitarbeiter im einfachen Loft-Büro in einem ehemaligen Lagerhaus.

Fast jeden Monat bringt der Verlag ein neues E-Book heraus. Falls das der richtige Begriff ist. Meist sind es Großreportagen, wie sie so ähnlich auch im „New Yorker" erscheinen könnten – aber oft sind sie deutlich länger. Viele dieser Mini-Bücher sind ergänzt mit Multimedia-Elementen. Das E-Büchlein über einen Jazzmusiker etwa ist unterlegt mit dessen Musik (sie lässt sich auch abschalten). Der Bericht über einen Einbruch beginnt statt mit Worten mit Bildern von Überwachungskameras.

Atavist leistet sich sogar „Fact Checker", Dokumentationsjournalisten, die alle Texte auf Richtigkeit überprüfen, ein in der Verlagswelt fast unbekannter Luxus. Bei jedem Mini-Buch ist die Hörbuchfassung automatisch mit dabei. Wenn man sie einschaltet, läuft der Text über den Bildschirm. „Viele Leser wollen den Text sehen, während sie zuhören", sagt Ratliff. „Ich verstehe selbst nicht, warum."

Kaufen kann man die Bücher für Lesegeräte wie iPad, iPhone, Kindle, Nook oder Kobo für zwei bis drei Dollar. Sie sind aber auch als Abo bestellbar, wie eine Zeitschrift. Die Autoren werden zu Mitunternehmern, sie bekommen ein Grundhonorar und darüber hinaus die Hälfte der Verkaufserlöse, pro Buch rund einen Dollar. Über 100 000 E-Books hatte Atavist angeblich im Jahr 2011 verkauft.

Das meiste Geld kommt jedoch durch das Redaktionssystem herein, welches die Erstellung von elektronischen Büchern für verschiedene Formate vereinfacht, 26 000 Nutzer verwendeten es 2015. Bisher bedeutet das Erstellen eines E-Books ein endloses Herumfrickeln mit Formatierungen (so auch bei dem vorliegenden E-Book). Die Atavist-Software soll diesen Prozess vereinfachen. Atavist ist nicht allein, auch Projkekte wie das „People's E-Book" strebt eine ähnliche Vereinfachung an: wie die Bedienung eines Kopierers im Copyshop. Fortan könnten E-Books vom nachgereichten Abklatsch des gedruckten Buches zur Originalvorlage werden, die dann optional noch auf Papier gedruckt wird, falls es Nachfrage gibt.

Atavist ist nur ein Angebot unter vielen. StartUps wie The Feature, Longform, Rumpios oder The Million  verweisen auf die besten Reportagen aus Blättern wie „The Atlantic" oder „The New York Times".

Auch der Dienst Byliner sammelt lange Reportagen, zusätzlich bietet er ähnlich wie Atavist eine eigene E-Book-Edition namens „Byliner Originals" an. Der Bestsellerautor Jon Krakauer („In eisige Höhen") schaffte es in dieser Reihe mit einer Enthüllungsgeschichte an die Spitze der E-Book-Bestsellerliste von Amazon. Die Reportage von Krakauer über Greg Mortenson, einen Bergsteiger und Wohltäter, an dessen Arbeit Zweifel aufgekommen waren, hatten zuvor mehrere Zeitschriften abgelehnt. Aus Platzgründen. Soviel zum nahenden Ende des langen, konzentrierten Lesens.

Viele Ideen sind heute von den kleinen Startups wie Atavist hinüber in den Mainstream diffundiert. Amazon zum Beispiel bietet an, zusätzlich zum E-Book auch das Hörbuch zu kaufen. Dort, wo man am Vortag aufgehört hat zu lesen, setzt dann die Erzählerstimme automatisch fort am nächsten Tag, im Hintergrund synchronisiert.

Selbst etablierte Verlage geben in den USA inzwischen Reportagen als E-Books heraus. Nur sieben Tage, nachdem ein Spezialkommando der amerikanischen Streitkräfte Osama Bin Laden getötet hatte, brachte der Verlag Random House „Beyond Bin Laden: America and the Future of Terror" heraus. Gutenbergs bewegliche Lettern werden immer beweglicher.

„Das geduldige Lesen langer Stücke erscheint wie ein Atavismus, also wie ein ausgestorbenes Körpermerkmal", sagt Evan Ratliff, wenn er den Namen seines E-Book-Verlags erklären soll. In der Biologie tauchen diese Atavismen manchmal nach Millionen von Jahren erneut auf, zum Beispiel bei menschlichen Föten, die einen Schwanz zu haben scheinen, der sich dann zurückbildet.  

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