× 98 × Freitag

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[Zu dem Kapitel hab ich einfach mal ein Video angehängt, weil mich das Lied einfach an Claras Situation erinnert. :) Enjoy.]

Natürlich habe ich daran gedacht, Marcs Brief doch noch zu lesen.

Und natürlich war ich kurz davor, Maggie und Marc von der Schule in Michigan zu erzählen.

Aber wann auch immer sich so ein Gedanke bei mir eingeschlichen hat, habe ich mich gezwungen, stattdessen lieber für die Prüfung heute zu lernen.

Obwohl ich weiß, dass ich eigentlich alles können müsste, habe ich trotzdem Zweifel. Was, wenn ich einen Blackout habe? Was, wenn ich nicht so gut vorbereitet bin wie ich dachte? Was, wenn Mr. Darlington wieder seine Finger im Spiel hat?

Was, wenn ich wieder durchfalle? Wenn ich nach Michigan muss?

Ich schüttle den Kopf und atme tief durch. Ich schaffe das. Mit zittrigen Händen drehe ich das Blatt um, das vor mir auf dem Tisch liegt.

Stirnrunzelnd, zähneknirschend, Lippen beißend, Fingernägel kauend, Augen zusammenkneifend und negative Gedanken verdrängend sitze ich die nächsten zwei Stunden in Mr. Pittmans Büro und löse Aufgabe für Aufgabe.

Mit jedem weiteren Wort, das ich lese, verschwimmen die Buchstaben immer mehr. Ich reibe mir die Augen.

Ich schaffe das.

Ich muss das schaffen.

Ich atme tief durch und versuche mich zu beruhigen.

Die letzten zehn Cupidos der Vereinigten Staaten von Amerika? Der amtierende ist Mr. Pittman Senior. Und die anderen... Pfff. Keine Ahnung. Cupido I, Cupido II, Cupido III...?

Nach fast genau zwei Stunden hinschreiben, durchkritzeln und verschlimmbessern lege ich die Prüfung auf Mr. Pittmans Bürotisch.

„Na dann hoffen wir mal, dass dieses Mal alles glatt läuft", sagt er.

Ich nicke nur, während mein Blick nach unten gerichtet ist.

Er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. „In den nächsten Tagen habe ich sie korrigiert und du kannst das Ergebnis abholen."

Wieder nicke ich nur und verlasse dann Mr. Pittmans Büro.

Wie es lief? Das kommt ganz darauf an, ob man die Situation aus Mr. Darlingtons oder aus meiner Perspektive betrachtet. Die Prüfung war schwerer als die vorherige und gut die Hälfte der Dinge, die ich hingeschrieben habe, sind nur geraten.

Ob das ausreichend ist oder nicht, wird sich ja dann zeigen.

Mit gesenktem Kopf laufe ich über den Pausenhof und schiebe ab und zu einen kleinen Kieselstein vor mir her.

Wenigstens ist Marc um diese Uhrzeit schon zuhause, sodass ich mir nicht auch noch den Kopf darüber zerbrechen muss, wie ich ihm erkläre, dass ich in ein paar Stunden in Michigan sein werde.

Auch wenn ich es eigentlich nicht wahr haben will, wird mir nämlich langsam klar, dass ich die zweite Prüfung wohl noch mehr verhauen habe als die erste.

Als ich zuhause bin, drehe ich die Musik so laut auf, dass ich vollständig in meiner eigenen Welt gefangen bin. Wie ein schweres Tuch legen sich die dröhnenden Klänge über mich und schaffen einen dunklen Schatten, der mich kalt umhüllt.

Ich packe meinen Koffer. T-Shirts, Hosen, Socken. Ich werfe willkürlich die wichtigsten Sachen auf einen Haufen und packe sie anschließend ein.

Als ich mich gerade bücke, um ein Top aufzuheben, fällt mir im Augenwinkel meine bunte Wand auf, die ich damals mit Maggie, Mikey und Mikey's Kumpel bemalt habe. Ich lächle, als ich daran denke, wie viel Spaß wir an dem Tag hatten. Wie unbeschwert wir gelacht haben. Wie einfach alles war. Auch wenn mir Mikey's dämlicher Kumpel danach meinen Muffin geklaut hat, war es einer der besten Tage in meinem Leben.

Ich wische mir eine Träne von der Wange.

Mein Blick wandert zu dem großen Bilderrahmen, in dem sich Fotos von Maggie und mir befinden. Wie in Zeitraffer zeigen sie zwei Mädchen, die mit jedem Jahr wuchsen und mit ihnen ihre Freundschaft zueinander. Zwei Mädchen, die sich alles erzählen konnten. Zwei Mädchen, die immer füreinander da waren. Zwei Mädchen, die in Zukunft nicht mehr sein werden, als zwei Mädchen, die sich mal kannten.

Meine Augen brennen und meine Kehle fühlt sich an, als würde mich jemand würgen.

Ich setze mich schluchzend auf meinen Koffer und vergrabe das Gesicht in meinen Händen.

Warum? Warum, verdammt? Hätte Mr. Darlington nicht einfach ein weniger großer Vollidiot sein können?

Aber egal wie viele Vorwürfe ich Mr. Darlington, meiner Mutter, oder sonst wem machen kann, der Großteil der Situation ist trotzdem mein Verschulden.

Wütend auf mich selbst greife ich nach einem Paar Socken, das vor mir auf dem Boden liegt und werfe es gegen die bemalte Wand.

Ich muss hier weg. Weg von der verhauenen Prüfung. Weg von dieser Wand und diesen Fotos. Weg von den Erinnerungen.

Ich nehme meinen Koffer und gehe die Treppe runter.

„Mom?", rufe ich ziellos, während ich meine Schuhe binde und versuche aufzuhören Tränen zu produzieren.

Wenige Sekunden später steht sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck vor mir.

„Fährst du mich zum Flughafen?"

Zu geschockt von meiner Frage, antwortet sie zuerst nicht. Dann nickt sie unsicher und holt die Schlüssel.

Sie hilft mir, mein Gepäck zu verstauen und wenige Minuten später sitzen wir nebeneinander im Auto.

Die erste Zeit schweigen wir beide.

„Es tut mir leid", sagt sie plötzlich und sieht mich wehmütig an. „Es tut mir leid, dass ich so überreagiert habe. Keine Mutter schickt ihr Kind auf eine Schule, die zwei Bundesstaaten von zuhause entfernt ist. Es war nur wirklich die nächste in der Umgebung, die Schüler auch nur für das letzte Jahr aufnimmt... mit deinen Noten. Es tut mir so unglaublich leid, Clara. Wirklich. Wenn ich irgendwas tun kann, damit es dir besser geht..."

Ich sage nichts.

„Du musst mich wirklich hassen..." Sie seufzt. „Aber ich nehme es dir nicht mal übel. Ich hasse mich ja selbst für mein Verhalten."

„Ich hasse dich nicht", gebe ich leise zu. Mom leidet schon genug, auch ohne, dass sie denkt, ihre Tochter würde sie hassen.

Sie sieht erleichtert aus. Ihre Hände halten das Lenkrad allerdings immer noch so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. „Willst du dir das nicht noch mal überlegen? Max und dein Vater würden sich sicher auch noch gerne richtig von dir verabschieden."

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter, bevor ich den Kopf schüttle. „Ich muss hier weg. Je früher, desto besser. Der Abschied wird durch Warten auch nicht einfacher."

Ich schaue aus dem Fenster und beobachte die Regentropfen, die an der Fensterscheibe entlang wandern.

Manchmal glaube ich wirklich, das Wetter will sich über mich lustig machen.

Ich schaue nach links. „Mom?"

Sie sieht mich kurz an.

„Kannst du mir versprechen, nicht sauer auf Max zu sein?"

„Warum sollte ich sauer auf ihn sein?"

„Er wird dir bald etwas sagen, was dich vielleicht etwas verwirren wird."

Sie sieht mich perplex an.

„Bitte. Versprich es mir."

Sie zögert kurz, nickt dann aber, während unser Auto langsam auf dem Flughafenparkplatz zum Stehen kommt. „Versprochen."

Amors Pfeil - defekt [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt