Victor brummte und warf einen Blick nach draußen. Der Regen klatschte Kübelweiße gegen die Fensterscheibe, kein lohnenswerter Anblick, weswegen er seine Aufmerksamkeit wieder dem Rechner schenkte. Es war gefühlte Ewigkeiten her, aber er spielte wieder Minecraft. Eigentlich war er ja kein großer Fan des Spiels, aber heute hatte er eigenartiger Weise Lust auf die eintönige Blöcke-Welt. Es war Morgen, auch, wenn sein Schlafrythmus etwas anderes behauptete.
Nach einiger Zeit bekam er Hunger, also erhob er sich schwerfällig von seinem PC und suchte die Küche auf. Die hatte das zu bieten, was eine Studentenküche nun mal zu bieten hat - nahezu gar nichts. Seufzend schlug er die Kühlschrank Tür zu und griff nach seinem Handy und seinem Haus Schlüssel - normaler Weise hätte er sich jetzt etwas bestellt, aber irgendwie musste ja mal etwas in die leeren Essensschränke kommen. Also zog er sich die Regenresistenteste Jacke im ganzen Haus an und trat auf die nahezu menschenleere Straße. Bis jetzt war alles normal verlaufen, so normal, wie jeder andere Tag, logisch, die ganze Geschichte begann auch erst, komisch zu werden, als Victor auf dem Rückweg war.
Der Regen klatschte gegen seine Jacke, als er mit einer großen Tüte Lebensmittel nach Hause spatzierte. Er war schon länger nicht mehr draußen gewesen, und seltsamer Weise fand er es gerade auch nur angenehm, da es regnete. Er liebte Regen, oder, noch besser, Gewitter. Die meisten seiner Freunde teilten diese Vorliebe nicht, aber das war Victor egal. Es müsste ja nicht überall Gemeinsamkeiten geben.
Er begegnete niemandem auf dem Weg, hie und da liefen Leute über die Straße, die schnell aus dem Unwetter wollten, aber niemals kam einer näher zu ihm. Das änderte sich jedoch drei Straßen vor seiner Wohnung blitzartig.
Zuerst hörte er die Schritte gar nicht, die hinter ihm immer schneller wurden, insgesamt nahm er erst Kenntnis von dem Mann, als er ihn an der Schulter festhielt und zum Anhalten zwang. Victor drehte sich leicht irritiert um und beugte den Fremden. Genau wie auch bei ihm waren seitlich an seinem Kopf die Haare abrasiert, jedoch waren die seines Gegenübers sehr viel kürzer, gelockt und giftgrün, im Gegensatz zu seinen blonden. Drei Tage Bart, schwarze Jacke, keine Kaputze, dafür aber eine pitschnasse Stoffmütze.
Ein wenig perplex versuchte Victor, den Mann zum Reden an zu regen. "Kann ich ihnen vielleicht irgendwie helf-" "Heeey, Victor! Was machst du denn hier?"
Victor zog eine Augenbraue hoch. "Kenn' ich dich?" Der fremde Mann mit den Grünen Haaren, den er soeben zum ersten Mal in seinem Leben gesehen hatte, lachte ohne darauf einzugehen und zog ihn in eine Umarmung. "Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!" Kurz bevor er die Umarmung löste, sah er sich unauffällig um und senkte die Stimme so sehr, dass sie durch den prasselnden Regen kaum zu Victor durchdrang. "Ich kann alles erklären, aber bitte spielen sie mit. Unser beider Leben könnte davon abhängen."
Victor blinzelte kurz. Sollte das ein Scherz sein? Der Blick des Mannes - ungefähr in seinem Alter, 20 bis 25 Jahre alt, flehte ihn regelrecht an.
"Ähhm... hey! Das ist ja ne Überaschung...! Man, du siehst kein bisschen anders aus... äh..."
"Toni", flüsterte er, ein gefaktes Lächeln aufgesetzt.
"Toni.", wiederholte Victor, ein wenig sicherer.
"Wollen wir nicht zu dir gehen? Das Wetter ist scheußlich!"
Die Tatsache, dass Victor das Wetter eigentlich klasse fand, ließ er kurzerhand außen vor und nickte ein wenig neben der Spur. Immer noch war er davon überzeugt, Opfer eines simplen Scherzes zu sein, aber etwas besseres hatte er eh nicht zu tun. Also packte er seine Tüte fest mit der Hand und eilte dem Mann - Toni - nach, der schon die Straße hinuntergelaufen war.
"Hmm... furchtbares Wetter heute, oder?", lachte Toni gezwungen, sogar leicht gequält. "Mh, wie manns nimmt.."
"Gut gelaunt wie immer." Die kläglichen Koversationsansätze versagten allesamt. Victor hatte zwar die ganze Zeit ein flaues Gefühl im Magen, aber richtig unwohl wurde es ihm erst, als Toni direkt vor einer Türe stehen blieb. Einer bestimmten. Sie befanden sich nur circa einen Meter von Victors Haustüre entfernt, Toni hatte ohne zu zögern die richtige Richtung, den richtigen Weg und das richtige Haus gewählt.
"Sperrst du auf? Ich hab verständlicher Weise keinen Schlüssel..."
Eigentlich wollte er es nicht. Er wollte keinen Verückten, grünhaarigen Fremden in seinem Wohnzimmer das Pakett mit seiner Regenjacke volltropfen lassen. Aber trotzdem zog er zögerlich den Schlüssel und sperrte langsam auf. Kaum war der Weg frei, preschte Toni an ihm vorbei, ins Treppenhaus. "Komm schon!" Im Laufen zog er seine Jacke aus und riss sich die Mütze vom Kopf, dann war er um die erste Ecke. Perplex folgte Victor ihm. Das ganze wurde ihm zu wieder, aber ihn jetzt wieder rausschicken ging ja schlecht. Toni wartete oben schon vor der Wohnungstür, in der Hocke. "Mach schon auf, bitte!" Ohne etwas zu erwidern öffnete er auch die letzte Tür. Mit wenigen Schritten war Toni durch das Zimmer gelaufen und zog sämtliche Vorhänge - was einige waren - zu, schaltete das Licht an und riss die Tür zu.
"Moment, hören sie mir mal zu! Es ist mir nicht recht, dass sie in meiner Wohnung herumrennen, ohne, dass ich sie kenne!"
Er ging nicht darauf ein und begutachtete jedes Zimmer, verdeckte noch einige Fenster und ließ sich letztendlich ächzend auf die Couch fallen.
"Die Unannehmlichkeiten tun mir schrecklich Leid, wirklich."
"Wie wär's, wenn sie mir erst mal erklären, was das vorher war? Und woher kennen sie meinen Namen und wissen, wo ich wohne?"
"Eines nach dem anderen." Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, erst jetzt fiel Victor die relativ große Brille auf. Wie hatte er sie vorher übersehen können?
"Ich bin wie schon klar geworden ist Toni. Toni Pirosa. Woher ich deinen Namen kenne, ist eine Geschichte für ein ander Mal. Ich wurde vorhin verfolgt. Aber nicht nur ich, meine Feinde sind auch deine Feinde. Ich musste dich irgendwie wegbringen, ohne zu zeigen, dass du es bist. Also hab ich einfach gehofft, du machst mit. Respekt übrigens, für soviel Vertrauen. Ich muss dich in ein Paar Sachen einweihen. Hoffen wor einfach, dass sie wieder den nächsten kontrollieren und dich vergessen."
Victor starrte ihn an.
"Sind sie betrunken?!"
Toni schlug sich stöhnend die Fläche Hand ins Gesicht. Dann setzte er sich normal hin und klopfte neben sich auf die Couch, als Zeichen, dass Victor sich setzen sollte.
Nur zögerlich befolgte er es.
"Also, Victor. Du - es ist doch in ordnung, wenn wir uns dutzen, oder - jedenfalls, es gibt seit neuestem ja eine... spezielle... Firma in deiner Stadt."
Kurz dachte Victor nach.
"Ja, diese... Flyse-and-more? Die FAM, ja, die hat sich hier unglaublich schnell verbreitet. Ein Wunder, dass alle Land- und Firmenbesitzer in der Umgebung verkauft haben..."
"Haben sie nicht."
Kritisch betrachtete Victor Tonis Gesichtsausdruck. Er machte aber keine Anstalten, seine Erzählung fortzusetzen, also regte er es ein wenig an.
"Was meinen sie... Ich meine du. Was meinst du damit?"
"Wir sind einigen Spuren nachgegangen, und, nun ja, wir finden immer mehr Hinweise darauf, dass bis auf ein, zwei Ausnahmen jede Firma strikt gegen den Verkauf war. Und plötzlich verkaufen sie angeblich doch - und man hört nichts mehr von ihnen. Man muss kein Genie sein, um zu ckecken, dass irgendwas daran faul ist." Victor runzelte die Stirn.
"Und was ist daran jetzt dein, beziehungsweise mein Problem? Geh doch einfach zur Polizei, oder zu irgendwelchen Behörden. Die werden sich darum schon kümmern."
Ein Kopfschütteln. "Nicht genug Beweise. Und inwiefern das dein und mein Problem ist, wird sich dir gleich zeigen.
Mein Problem besteht darin, dass ich einmal mit einem Mitarbeiter der FaM gesprochen habe und irgendwelche scheinbar unwichtigen Andeutung gegenüber der Koruption gesprochen habe. Es war ein entfernter Verwandter von mir, also hab ich mir dabei nichts gedacht. Wenige Tage danach erwartet mich ein schwarz gekleideter Mann an der Hausecke zu meiner Wohnung und versucht, mich umzubringen. Noch am selben Nachmittag wäre ich fast von einem LKW überfahren worden, der direkt auf mich zugefahren ist und keine Rücksicht auf Kollateralschäden genommen hat. Kurz danach wollte mich eine Bande maskierter Männer erstechen. Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, was das ganze sollte, wollte auch eigentlich zur Polizei gehen, aber auf dem Boden habe ich nachdem die Bande weg war, einen Flyer von der FaM gefunden. Der Mann hatte ein Erkennungschild von ihnen verloren. Der LKW war von der Firma. Und 1 und 1 zusammen zu zählen ist nicht schwer."
Langsam bekam Victor es mit der Angst zu tun. Er zog sich die Lederjacke aus und zupfte unruhig an seinen halb Finger Handschuhen, ständig auf seiner Lippe herumkauend. Das, was Toni ihm hier beschrieb, war Zensur durch versuchten Mord. Wenn der Mann vor ihm kein entlaufener Verückter war, ging diese unscheinbare Firma über Leichen, und zwar einen ganzen Haufen.
"Aber das beste kommt erst noch. Weißt du, was FaM herstellt?"
Victor schüttelte verunsichert den Kopf.
"Eigentlich ja von allem etwas, sie ist wie schon gesagt riesig, aber eines steht ganz weit oben auf der Liste: Kontaktlinsen."
"Kontaktlinsen?"
"Kontaktlinsen."
"Ja... und?"
Toni rollte mit den Augen.
"Ich und meine Freunde haben nicht ungewichtende Hinweise darauf, dass diese Kontaktlinsen einen gewissen Stoff enthällt, der systematisch den IQ und die Gehirnströme eines Menschen misst und ihn... ausschaltet, wenn er als gefährlich eingestuft wird."
"Das heißt..."
"Die Sachen, die sie herstellen töten Menschen."
Victor starrte Toni an. "Du musst damit zur Polizei!"
"Kann ich nicht. Die glauben mir nicht, und diese Firma hat mehr Einfluss, als man glaubt."
"Und... wie ist das jetzt mein Problem? Ich meine, dass ist in gewisser Weise unser aller Problem, aber wieso werde ich hier mitreingezogen?"
"Es gibt manche Leute, die von der FaM gezielt ausgeschaltet werden sollen. Ich zum Beispiel, oder meine Freunde. Oder du.
Manche Leute sind immun gegen das Gift in ihrern Produkten, und außer, dass es ein wenig juckt, passiert nichts. Wieso, ist nicht klar. Und diejenigen, die von den Produkten nicht umgebracht werden können, es aber sollten, stehen dann in der Zielscheibe. Wir nennen das Target. Schnell zu tötende - also sehr gefährliche Leute, stehen oben, systematisch zu tötende unten. Du bist anscheinend wichtig. Wir wurden vorher beschattet, und ich glaube, dass sie für mich nun stärkere Geschütze auffahren. Also sind wir in einer ungünstigen Lage, Victor."
Das war ein ticken zu viel. Victor stand auf und ging einen Meter auf Abstand.
"Wieso sollte ich dir das alles glauben?"
Toni lächelte verständnisvoll.
"Ich hab ein Paar Beweise dabei."
Er kramte in seiner Tasche und zog einen Umschlag hervor. Zögernd nahm Victor ihn und sah hinein. Ein Dienstschild von FaM, Fotos von Toni, anscheinend ohne sein Wissen geschossen, teilweise nass, ein Flyer von FaM. Dann nahm Toni sein Handy, gab etwas ein und hielt es ihm hin. Das Display zeigte augenscheinlich einen Autounfall, einen umgekippten Laster von FaM, rote Ampeln, Autos, die in der Vollbremsung verharrten. Mit einem nach links schnippsen, erschien das Bild von einer gerade das Weite suchenden Truppe Männer mit Sturmhauben, einige davon ein Messer in der Hand.
"Na? Sieht doch ziemlich bitter aus, oder?"
Langsam nickte er.
"Und was jetzt?"
"Am besten bleibst du erst mal in deiner Wohnung. Eingekauft hast du ja jetzt. Demnächst komm ich mit der ganzen Truppe vorbei, dann sehen wir weiter. Ach, und nochwas... was für einen IQ hast du eigentlich?"
"Wurde nie getestet. Sonderlich hoch kann er nicht sein."
"Wenn du dumm wärst, müsstest du nicht sterben. Noch Fragen?"
"Wieso kannst du sowas?"
"Was?
Eine Truppe erwachsener Männer umhauen zum Beispiel?"
"Genau."
"Ich war mal Stuntman. Außerdem bin ich ein Recht guter Parkour - Läufer, hab einen Waffenschein gemacht und beherrsche mindestens 5 Kampfsportarten. Außerdem bin ich hochbegabt. Noch was?"
"Warum das alles?"
Toni lächelte schief.
"Wenn wir das wüssten... dann wären wir schon halb am Ziel."
"Und wie sieht das Ziel aus?"
"Lösung A: Wir kratzen genügend Beweise zusammen, suchen uns unbestechliche Polizisten oder das FBI und hängen die FaM hin. Lösung B: Wir reißen das Problem an der Wurzel heraus und töten den Drahtzieher. Lösung C: Selbstinitiative und den Drahtzieher zum Gestehen bringen, Lösung D: Eines qualvollen Todes sterben."
Victor erwiderte nichts darauf.
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Target
Fanfiction《Victor zog eine Augenbraue hoch. "Kenn' ich dich?" Der fremde Mann mit den Grünen Haaren, den er soeben zum ersten Mal in seinem Leben gesehen hatte, lachte ohne darauf einzugehen und zog ihn in eine Umarmung. "Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!"...