13 - Hals über Kopf

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Sooooo eine Geschichte zum Thema "kopfüber". Ich hab die ganze Woche überlegt, was ich dazu schreiben könnte und dann habe ich es allen Ernstes vergessen. VERGESSEN. Und es ist mir erst vor ein paar Stunden wieder eingefallen. Demnach - erwartet nichts Hochwertiges

Es war ein regnerischer Tag gewesen, als mein Vater zumindest für ein paar Stunden alles vollends auf den Kopf stellte. Meine beiden Schwestern Elizabeth und Carla saßen gerade in der Küche und warteten auf unsere Mutter, die meinen kleinen Bruder George von der Kinderkrippe abholte. Sie alle waren ihrem ach so religiösen und unterwürfigem Verhalten hörig und ich, ich fühlte mich mal wieder fehl am Platz. Carla redete ununterbrochen von ihrer Kommunion, Elizabeth versicherte ihr, wie schön sie in ihrem pechschwarzen, „Nimm-mich-erst-nach-unserer-Hochzeit“-Kleid aussehen würde und ich wünschte mir in diesem Moment nichts Sehnlicheres als eine gute Schüssel Cornflakes. Doch wie gesagt, der Tag würde noch einiges mit sich bringen, blind würden wir werden, kopfüber in etwas segeln, das sich als unsere „Bestimmung“ bezeichnete. Und all das begann genau in dem Moment, als mein Vater knallend die Tür aufschlug und schwer atmend in die Stube stürmte. Das Wasser tropfte aus seinem schütteren Haar und er schien uns offensichtlich irgendetwas vermitteln zu wollen. Elizabeth und Carla hielten inne und wir alle starrten ihn an, wie er da so stand und den Teppich voll tropfte. Noch immer sagte er nichts und das nervte mich langsam.

„Ist etwas passiert?“, fragte ich daher trocken, doch anstatt mir zu antworten, fischte er eine Zeitung aus der Aktentasche und hielt sie mir vor die Nase. Seine Finger zitterten und die Knöchel traten weiß hervor. Schien wohl wichtig zu sein.

„Seite fünf“, war alles, was er dazu sagte. Seine Stimme war ungewohnt hoch, eingeengt in Furcht. Ich zog die Augenbrauen in die Höhe und blätterte vor. Zwischen einigen Kleinanzeigen und einer Meldung irgendeines Papstes am Arsch der Welt, der wohl zu tief ins Glas geguckt hatte und der Meinung war, dass man ihm einen zehnzeiligen Artikel in der Morgenpost widmen musste, konnte ich nichts Weltbewegendes finden.

„Und nun?“

Vater riss mir das Papier aus den Händen und zischte laut auf, als hätte man ihn beleidigt. „Es ist so weit, Annie, verstehst du das nicht?“, flüsterte er nun und sank neben mir auf die Couch. Das Gesicht in die Hände gestützt begann er nun eine Spur zu dramatisch zu schluchzen. Mittlerweile hatten sich auch meine Schwestern zu uns gesellt und beobachteten stumm das Geschehen.

„Wir müssen hier weg“, war das letzte, was mein Vater durch die schützenden Finger presste, bevor er aufsprang und anfing irgendwelche Sachen aus dem Haus wüst durch die Gegend zu werfen. Ein Haufen aus Lebensmitteln, Kleidung und der Bibel entstand. Wir saßen einfach nur da und warteten auf eine Erklärung, einen Grund, eine verdammte Erleuchtung.

„Wo ist eure Mutter?“, fragte er und riss Taschen aus den Schränken, in denen er den ganzen Kram zu verstauen versuchte. Just in dem Moment ging noch einmal die Tür auf und George machte sich mit glucksenden Geräuschen auf dem Arm der eben Besagten bemerkbar.

„Mary, es ist soweit“, wiederholte er nun die Worte, die er vorhin noch zu uns gesagt hatte. Im Gegensatz mir, schien meine Mutter sofort zu verstehen und musste aufpassen, nicht ausversehen George fallen zu lassen. Den drückte sie mir in den Arm und half meinem Vater stumm beim Einpacken.

„Kann mir mal jemand sagen, was hier eigentlich abgeht?“ In jeder anderen Situation hätte ich für diese Wortwahl eine böse Bemerkung meiner Eltern erhalten, doch diesmal reagierten sie völlig anders.

„Das Haus, wir müssen das Haus verlassen“, stockte meine Mutter und ich zweifelte für eine Sekunde an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Elizabeth griff nun nach der Zeitung und las den kurzen Absatz durch. Vielleicht hätte ich das auch tun sollen, denn es schien auch ihr irgendwas zu sagen. Ohne jeglichen Kommentar holte sie ihre Sachen und warf dann abwechselnd Carla und mir Blicke zu.

„Gib ihn mir, dann kannst du packen gehen“, murmelte sie und streckte mir ihre Hände entgegen. Das konnte sie ja mal voll vergessen. Bevor ich hier irgendwas tat, wollte ich den Grund für all die Aufregung erfahren. Und so drückte ich meinen Bruder enger an mich, er schien in diesem Moment wie eine Art Schutzwall.

„Annie, bitte“, flüsterte Elizabeth nur noch, bevor sich Tränen in ihre Irden stahlen, Carla nach oben eilte und ich mich mehr als je zuvor nach meinen Frühstücksflocken sehnte. Sie symbolisierten Normalität, ein Stück Bodenständigkeit in diesem Irrenhaus. Verzeihung, natürlich meinte ich „Gotteshaus“. Das Folgende bekam ich nur noch wie in Trance mit. Meine Familie trug die Taschen zum Auto, kam regennass wieder herein und holten die nächsten Sachen. Bis irgendwann fast alles leer geräumt war und sie vor mir standen. Irgendetwas schienen sie zu sagen, doch ich war taub für ihre Worte. Das einzige, was ich wahrnahm, war der Herzschlag George' s, der gegen meine Brust hämmerte. Irgendwann begann mein Vater zu schreien und meine Mutter zu weinen. Elizabeth und Carla flennten ja schon die ganze Zeit und ich wurde mitsamt meines Bruders nach draußen zum Wagen geschoben und auf die Rückbank gesetzt.

„Ich check das nicht, was ist denn los?“, hörte ich meine Stimme weit entfernt sagen. Carla nahm mir George ab und bettete ihn in seinen Kindersitz, nachdem sie mir das Abendblatt in den Schoß geworfen hatte.

„Lies. Scheinst du vorhin ja nicht getan zu haben.“

Meine Augen überflogen den kleinen Text und nur Bruchstücke an Informationen drangen zu mir durch. Sie sprangen gegen meine Schädeldecke und bereiteten mir Kopfschmerzen. Man sprach von einer Apokalypse, einer Vorhersage, einem Gottesboten in Form des vorhin schon angesprochenen Papstes. Und da verstand ich. Alles schien plötzlich Sinn zu machen, im beschränkten Horizont meiner christlichen Familie. Sie glaubten. Sie glaubten, dass wir sterben würden und jetzt, jetzt fuhren wir den Highway entlang, meine Mutter telefonierte mit dem Vermieter, das Auto füllten sich mit salzigen Tränen und ich schüttelte anhaltend den Kopf.

„Und das glaubt ihr? Das ist der Grund, warum ihr euch kopfüber in einer beschissenen Flucht verrennt?“

Keiner beachtete mich. Als mein Vater nach unseren Geldbörsen verlangte, gaben wir sie ihm und als er begann, die Noten im Feuer seines Streichholzes zu atemloser Asche zerfallen zu lassen, ärgerte ich mich. Ich hätte auf dem Rückweg noch Müsli kaufen können, ich meine, wenn der ganze Spuk hier zu Ende war. Aber das konnte ich nicht mehr. Als all unser Geld vernichtet war, atmete Vater auf.

„Wir brauchen kein Geld im Himmel.“ Er machte Carla und Elizabeth damit Angst und ich wurde zusehends genervter. Vorhin war ich in einem erstickten Vakuum, ungläubich, zu was die Liebe gegenüber einer geheuchelten Macht fähig war. Doch jetzt, jetzt befand ich mich in einem Kino. Ein Pool aus Emotionen. Um mich herum ging die Welt unter, zumindest für meine Familie, und ich saß mit Popcorn und Cola daneben. Ich war der Zuschauer, in einem Schauspiel.

Als wir mehrere Stunden gefahren waren und der Sprit ausging, hielt mein Vater den Wagen unfreiwillig an und parkte am Straßenrand. Das hier war keine Klippe, kein Sonnenuntergang am Ende unseres Weges. Der kahle und nur spärlich befahrene Straßenstreifen wirkte fast verloren im schwachen Licht, der fast verschwundenen goldenen Strahlen. Sie kündigten die Nacht an und wenn diese uns vollends eingeholt hatte, dann müsste etwas geschehen. Vielleicht ein explodierender LKW, nein, dramatischer – ein aufbrechender Boden, Ströme aus Lava. So wurde es prophezeit. Vielleicht sogar ein Meteroiteneinschlag, das wäre ja noch viel cooler. Mit all dem rechnete meine mittlerweile auf dem Boden hockende Familie. Sie hielten sich in den Armen und flüsterten leise Worte. Unfreiwillig wurde ich herab gezogen und wir bildeten einen kleinen Kreis. Mein Vater blickte noch einmal auf seine Uhr, bevor er sie auf den Asphalt schleuderte.

„Zeit wird irrelevant sein, Kinder.“

Und doch konnte ich sehen, wie er innerlich die Sekunden zählte. Sie alle schlossen die Augen und ich stöhnte genervt auf.

„Gott wird uns empfangen“, flüsterte meine Mutter noch, bevor sie die Fäuste verängstigt ballte. Jetzt. Genau jetzt hätte es passieren müssen. Doch, wie unerwartet, kam nichts. Ich gab ihnen einige Sekunden, das schien mir respektvoll. Doch irgendwann blinzelte Elizabeth und runzelte verwirrt die Stirn. Bei den anderen dauerte es etwas länger, doch als sie alle wieder bei Sinnen waren, stand ich auf, klopfte mir die Hände ab und setzte mich wieder ins Auto.

„Fahren wir? Ich muss Geld abheben und Cornflakes kaufen.“

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