4 - Bis sie sterben

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So Freunde der Sonne, die bereits 4. Geschichte. Naja gut, nicht allzu viel aber egal. Die Geschichte muss ziemlich alt sein. Denn ich kann mich nicht an das Thema erinnern. Oder ich hab ein schlechtes Gedächtnis. Eins von beiden. Dennoch viel Spaß beim Lesen und ich freue mich immer über Feedback.

 Bis sie sterben

Meine Augen sind geschlossen. Entspannt atme ich ein und aus. Mein Atem hört sich gut an finde ich. Besser als gestern. Seit ich die Sauerstoffmaske nicht mehr trage hab ich zwar weniger Kraft aber ich fühle mich frei. Frei wie ein Vogel. Muss lachen. Sehe vor mir den Staub. Der Staub rieselt. Wie bedeutungslos diese kleinen Körnchen wirken. Gruselig. Ich verschwinde wieder unter meiner Decke. Es ist so schön warm. So schön. Nicht mehr lange. Bald ist es vorbei. Ich freue mich drauf.

„Süße möchtest du was essen?“ Erik steht in der Tür und zwingt sich zu lächeln. „Ich habe Hunger!“, sage ich und versuche ihm damit ein echtes, richtiges Grinsen ins Gesicht zu zaubern. Er lacht so selten in letzter Zeit. „Soll ich es dir hoch bringen?“ Ich schüttele den Kopf. „Ich komme runter und esse mit dir!“ Er lächelt jetzt wirklich und kommt zu mir. Dann öffnet er das Fenster. Ich bin so lichtempfindlich geworden, dass er nur lüften kann, wenn ich nicht im Zimmer bin. Dann hilft er mir auf und führt mich zur Treppe. Langsam hebt er mich hoch. Seine Hände streichen dabei an meinen nackten Waden lang. „Hey!“, flüstere ich und nehme sein Gesicht in meine Hände. „Alles wird gut!“ Seine Mundwinkel zucken kurz nach oben. Obwohl ich nichts schmecken kann, weiß ich noch genau, dass er nach Kaffee schmeckt. Meine Sinneszellen sind so ziemlich Schrott aber ich weiß es einfach. Plötzlich werden meine Lippen nass. Ich wundere mich und öffne die Augen wieder. Es sind seine Tränen. Er weint. „Alles wird gut!“, flüstere ich immer und immer wieder. „Egal was passiert!“

Ich spüre die Sonnenstrahlen auf meiner Haut tanzen. Der Rhythmus ihrer Schritte ist ein Dreivierteltakt. Wie ein Walzer. Ich stelle mir vor, wie Erik und ich bis ans Ende der Welt tanzen. Doch die Füße auf meiner Haut tun weh. Ich setze meine Sonnenbrille auf und ziehe das Kopftuch tief in die Stirn. Schade. Naja, die paar Sekunden Leidenschaft haben mir gut getan. Ich verschränke die Arme und kuschele mich in meine Decke. Mein Schaukelstuhl wiegt meinen Körper, wie eine Mutter, die den zarten Kopf ihres Babys an die Brust führt. Ich vermisse meine Mama. Ich vermisse die Momente, in denen ich in ihrem Bauch war. Beschützt und nichts ahnend. Der Tod wird schöner sein. Noch schöner. Schöner als ein warmer Bauch. Oh ich freue mich.

„Ich will einkaufen gehen. Ganz viele Klamotten kaufen, okay?“ Er sieht verwirrt aus. „Bitte!“ Langsam verändert sich etwas in seinen Augen. Er versteht. „Du tust das aber nicht, weil du denkst, dass…dass du…“ Er bricht ab. Bleib stark, Engel, bleib stark! „Ja!“ Es würde nichts bringen ihn zu belügen. Daher sage ich die Wahrheit. Ungeschminkt. Schminke! Ich brauche Schminke. „Du brauchst was?“ Mir fällt auf, dass ich mal wieder aus den Gedanken heraus gesprochen habe. „Ich will mich schön machen!“ Er schüttelt den Kopf. „Du bist schön!“ Sein Blick wird weich. Weich wie Aprikosenmarmelade. Oh ich habe Hunger. Ich möchte Marmelade essen. „Dann kaufen wir dir Aprikosenmarmelade!“, antwortet er auf mein Denken.

Mein Brot mit Butter und Aprikosenmarmelade schmeckt gut. Ich muss lachen als ich daran denke, durch wie viele Läden wir gerannt sind, bis wir sie gefunden haben. Ob es im Tod auch Marmelade gibt? Ich hoffe es! Das würde den Tod noch viiiel viiiiel schöner machen! Oh ja, es wird wundervoll.

„Alena, Sie müssen sich helfen lassen!“ Ich lächele den Arzt an. Fühle mich high. „Ich will nicht!“ Er sucht den Blickkontakt. „Wenn Sie jetzt mit der Chemo weiter machen gibt es noch eine Chance.“ Der Schub lässt nach. Die Schmerztabletten wirken nicht mehr lange, das spüre ich. „Ich möchte nicht mehr. Ganz ehrlich Doktor, die Sache ist vorbei. Mein Leben ist vorbei und das ist so schön! Ich möchte nicht mehr leben! Ich werde die letzten Augenblicke - seien es Stunden, Tage, Wochen oder Monate – genießen. Und zwar zu Hause.“

Schüttelfrost. Im Tod wird es das nicht geben! Und Blut und Schmerzen und Qualen. Wie schön.

Meine nackten Füße betasten die Blumen auf dem Gras. Gänseblümchen. Etwas piekst in meinen Zeh. Langsam setze ich mich, spüre den Traum, versetze mich in Ekstase. Ja, ich träume. Stimmt! Wo sonst gibt es rosa Zuckgergusswolken und Bäume mit vierblättrigen Kleeblättern. Sie schweben um mich. Wie die Staubkörner. Doch sie sind nicht unbedeutend. Ich bin nicht tot, das weiß ich. Aber der Tod muss so ähnlich sein. Und wieder einmal freue ich mich darauf.

Ich beuge mich über die Kloschüssel und würge noch mehr Blut hervor. „Ich bringe dich ins Krankenhaus!“, sagt Erik und will mich hoch heben. Ich schiebe ihn von mir. „Nein, ich bleibe hier! Erik, begreif doch! Ich bin so kurz davor!“ Ich muss gruselig aussehen, wenn ich lächele und lauter rote Zähne habe. Nimm mich! Nimm mich so wie ich bin!, schreit es. Schreie ich. „Ich liebe dich, okay?“ Er schüttelt den Kopf. „Ich will nicht, dass du leidest!“ Er greift sein Handy und ich höre das monotone Piepen, als er die Tasten tippt. „Nein! Tu das nicht!“ Wie ein Film läuft alles von mir ab. Ich sehe mich selber. Sehe die Typen in Weiß. Wie sie kommen. Sie holen mich. Lauf, lauf schnell!

Weiße Wände, weiße Bettwäsche, weiße Ärzte. Jea, so hab ich mir das echt vorgestellt. Wer möchte nicht in der monotonen Parallele der Hölle sterben? Ich blicke an mir herab. Meine Beine sind eingewickelt in die Decke. Ich will frieren. Ich höre das leise knarren, wie die Tür aufgeht. Erik kommt rückwärts ins Zimmer. Er hält in einer Hand einen Kaffee, in der anderen eine Zeitung. Er versucht leise die Tür zu schließen. „Hey!“ Er zuckt zusammen, lässt Kaffee und Zeitung fallen. Tut mir leid, tut mir so so leid. Ich bin bald weg, dann kann ich niemanden mehr erschrecken oder weh tun. Im Tod kann niemand irgendwen weh tun. Oder? Oh Erik, nicht mehr lange. Oh Erik.

„Machen sie die Schläuche und dieses andere Zeug ab!“ Die Schwester sieht sehr sehr überfordert mit mir aus. „Das wäre unterlassene Hilfeleistung!“ Ich verdrehe die Augen. Niemand hindert mich am Sterben. „Schon okay, ich verzeih es Ihnen!“ Sie muss fast lächeln. Ich mag das. Wenn Leute wegen mir lächeln müssen. Irgendwie ein tolles Gefühl. „So einfach geht das nicht!“ Ich muss lachen. Laut, laut, laut!

Diesmal ist es kein Traum. Meine nackten Füße berühren den kalten Asphalt. Auf dem Weg zum Taxistand laufe ich durch Kaugummi, Zigarettenstummel, Glasscherben. Es ist so schön es zu spüren. Den Schmerz. Ich sehe die Tränen der Leute auf dem Beton. Wie sie weinten in kalten Winternächten. Ich werde keinen Schmerz mehr spüren. Ich werde sterben. Bald. Ich lasse mir Zeit auf dem Weg zum Taxi. Koste jede Sekunde aus. Freundlich lächelnd klopfe ich gegen die Fensterscheibe. Der Taxifahrer sieht kurz sehr erschrocken aus. Langsam kurbelt er das Fenster runter. „Wo soll‘ s denn hingehen?“

„Sicher, dass ich sie nicht weiter mitnehmen soll?“ Ich nicke. Der Taxifahrer ist nett. Ich hoffe er hat ein schönes Leben. „Nein, vielen Dank und einen schönen Tag!“ Er fährt nur ungern weiter. Ich danke ihm stumm. Puh, wie groß dieses Rapsfeld ist. Leuchtend gelb. Ich möchte eine Blüte nehmen und reinbeißen. Oder nein, lieber doch nicht. Langsam streife ich die Klamotten ab. Ich werde nackt schlafen. Der Stoff zieht sich über die Narben und die knittrige Haut an meiner Brust. Gott wird mich küssen, so wie er mich erschaffen hat. Ich werde wieder zu meiner Mama kommen. So, wie sie mich verlassen hat – nackt! Ich werde sie endlich wieder sehen. Ich freue mich so. Ein Endorphinschub macht sich bemerkbar. Splitternackt stehe ich vor dem Feld. Ich hoffe ich habe nichts vergessen. Nein, ich habe alles sorgfältig geplant. Ich habe meinen Brief an Erik geschrieben. Habe mir Zeit gelassen und mich doch beeilt. Ja, ich habe alles geschafft. Es dauert Stunden, bis ich es schaffe die Hand an den Kopf zu führen und den letzten entscheidenden befreienden Schritt zu gehen. Vielleicht auch nur Sekunden, ich weiß es nicht. Zeit ist irrelevant. Langsam nehme ich das Kopftuch ab. Der Wind – Gott – küsst meine Stoppelhaare. Ja, jetzt bin ich bereit für ihn, für sie, für alles. Und dann lauf ich und lauf ich. Die gelben Blüten verfärben meine Haut. Tausend Küsse. Sonnenküsse. Ich laufe länger als erwartet, halt so lange durch. Nach so vielen Metern werde ich langsamer. Sorgfältig drücke ich einige Zweige Raps zu einem Bett zu Recht. Mein Schlaf soll tief sein. Mein Atem geht noch schnell. Die Zweige berühren meinen Rücken. Ich schließe die Augen. Atme ein, aus, ein, aus. Denke nur an den letzten Satz meines Briefes an Erik: „Such mich nicht, denn ich liebe dich!“

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