Kapitel4

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Kapitel 4

Ich fasse es nicht! Die ganze Zeit dachte ich, dass jemand hervorspringen würde, um herauszurufen: Scherz! Du fährst doch nicht ins Camp! Alles bleibt beim Gleichen! Du musst dich nicht dazu zwingen neue Personen kennen zu lernen; die dich vielleicht hassen werden und du die ganze Zeit depressiv in deinem Zimmer hockst und nur Gesellschaft kriegst, wenn sich ein Betreuer erbarmt dir ein paar nette Worte einzuflüstern und du nach dem Camp total deprimiert nach Hause kommst, dich dem Schreiben abwendest und nur noch auf deinen Tod wartest, der dann mit Fettleibigkeit erfolgen wird, weil du niemandem mehr hast und die ganze Zeit Süßigkeiten in dich stopfst, um die Leere zu überwinden! Oh Gott! Ganz ruhig, ­Babsi! Nur nicht hyperventilieren!

Mit Grauen schaue ich auf den weiß lackierten Reisebus, dessen Fenster mich durch die Sonne blenden. Ich übersteh das nicht. Ohne Mum, Lucy und Ruanita? Non, iie, ohi, na! –ich hab sogar „Nein" nur für diesen Anlass auf Französisch, Japanisch, Griechisch und Rumänisch auswendig gelernt!

Mit Grabesmiene starre ich Ruanita und Lucy an, die demonstrativ das Gesicht abgewendet haben – miese Verräter.

Haben sich auf Papas Seite gestellt! Es wird dir bestimmt guttun Gleichaltrige zu treffen! Findest viele neue Freunde! Ja, wer's glaubt, wird selig!

Ich recke leicht den Hals, um ein paar Personen auszumachen.

Vier, sieben, neun. Ungefähr neun Mädchen –mit mir zehn. Und acht Jungs.

Ich lasse meinen Kopf wieder in eine bequeme Position zurücksinken. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie Lucy herumtollt und jeden mit ihrem Zahnpastalächeln angrinst.

Wenn ich Lucy wäre, würde mir die Welt auch marshmallowhaft, zuckersüß und pudrig rosa vorkommen. Wie es eben Achtjährigen erscheint.

Blick auf die Uhr. 12:47 Uhr. Na toll, noch genau fünf Minuten zur Eröffnungsrede und vierzig Minuten bis wir in den blöden Bus geladen werden-Jetzt mal ehrlich! Eine Eröffnungsrede?! Wir schließen nicht die Highschool ab, sondern fahren in ein Behindertencamp!

Grrrrr! Irgendwie macht mich das alles total wütend! Ich meine, ich habe meinen Eltern nie Probleme bereitet oder mich beschwert ODER ihnen je vorgeworfen sie wären schuld an meiner derzeitigen Situation! Und jetzt auf einmal NUR weil ich lieber zuhause sitze Videospiele spiele, und Geschichten schreibe anstatt mich mit Freunden treffen zu wollen- geschweige denn, dass ich Freunde habe,

bin ich plötzlich (brauche dringend Wörter dafür!!) und muss in ein Camp geschickt werden?! Pah! Ich pfeif auf Freunde! Meine PS3 ist Freundschaft genug! In meiner rasenden Wut über diese Ungerechtigkeit, rufe ich Lucy in dieser komisch leisen, aber schreienden Art zu mir.

„Lucy! Lucy! Komm her!"- die gleich herbeispringt

Diesmal klingt meine Stimme nicht schüchtern und piepsig, sondern bestimmt und fest!- so wie es sein sollte!

Kurz schwelge ich in Stolz und Euphorismus, bevor mir klar wird, dass hier von meiner Schwester die Rede ist, die sogar einem fremden Mann ins Auto folgen würde, wenn es ihr es sagen würde. Ich besinne mich schnell und flüstere: „Bring mich hier weg!" „HMM, WAS?", brüllt sie mir ins Ohr. –sie hatte vor kurzem einen kleinen Ohrschaden und brüllt deswegen wie ein Neugeborenes!

„Psst! Ich sagte, dass du mich kurz hinter den Kiosk rollen sollst, damit ich noch etwas Privatsphäre habe, bevor ich in dieses Höllencamp komme!" „DICH WEGBRINGEN? ABER MAMA HAT GESAGT, DASS WIR HIER BLEIBEN SOLLEN UM NICHT VERLOREN ZU GEHEN! DAMIT DU DANN IN DIESES SCHÖÖÖÖÖÖNE CAMP GEHEN KANNST!" –also lauter geht's wohl nicht?!

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