Eins

45 7 4
                                    

4392 Stunden.
183 Tage.
26 Wochen.
Sechs Monate.
Ein halbes Jahr.
Ein verdammtes halbes Jahr.
Lustlos und müde ließ ich den Marker sinken, dessen rote Farbe schon sechs Monate meines großen Wandkalenders zierte.
Es war doch hoffnungslos.
Ich konnte so viele Tage wie möglich wegstreichen, er würde nicht zurückkommen.
Nie wieder.
'Nie wieder.'
Früher waren diese zwei Worte für mich ohne jegliche Bedeutung gewesen.
Doch jetzt... tja, jetzt würden sie für immer in meinem Gedächtnis hängenbleiben.
Für immer und nie wieder.
Ironischerweise passten diese vier Worte überhaupt gar nicht zusammen.
Seufzend ließ ich meinen Blick über die Informationen schweifen, die ich über meinen Vater hatte finden können.
Und das waren nicht sehr viele.
Eine Kopie seiner Geburtsurkunde sowie die Städte, in denen er bisher gelebt hatte.
Allerdings war ich nirgendwo fündig geworden.
Kein Christopher Wilson weit und breit.
Es war einfach nur verwirrend.
Nein, mehr als das.
Es fraß mich förmlich von innen auf.
Wie konnte jemand einem nur so etwas antun?
Ich verstand überhaupt gar nichts mehr.
Aber so war es halt jetzt, und ich musste damit leben.
Es war doch sowieso nichts für die Ewigkeit bestimmt.
Dieser Meinung war jedenfalls meine pessimistische Großmutter Annie, die meiner Mum und mir andauernd eintrichterte, sie habe uns immer gesagt, dass jeder Kerl irgendwann mal abhauen würde.
Das hatten wir wohl alle ihrem Ex- Mann Gustav zu verdanken, der nach einem Aufenthalt in Deutschland mit seiner 24- jährigen Putzfrau Larissa durchgebrannt war.
Allerdings hatte er, im Gegensatz zu Dad, einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er beschrieben hatte, wie erleichtert er war der zynischen Grandma Annie nicht mehr über den Weg laufen zu müssen.
Und zynisch war nicht die einzige Beleidigungen gewesen: Satans' Mätresse hatte er sie noch genannt.
Mum und ich hatten sie damals gerade noch überreden können, Gustav und die Putzfrau Larissa nicht anzuzeigen.
Wer weiß, mit welchen Beleidigungen Gustav dann um sich geworfen hätte...
Bei ihm und Grandma war es eigentlich immer klar gewesen, dass irgendwer von denen mal abhauen würde.
Aber ehrlich gesagt war ich damals schon erleichtert gewesen: Grandpa Gustav war nämlich schon immer eine nervtötende Jammersuse gewesen.
(Meine Mum hätte es wahrscheinlich nie zugegeben, aber ich wusste, dass sie genauso empfand).
Also wie gesagt hatten meine Großeltern nie wirklich zusammengepasst, aber meine Eltern waren immer wie Pech und Schwefel gewesen.
Mein Dad hatte meiner Mum beigestanden, als sie sich den Fuß gebrochen hatte und deswegen kaum noch laufen konnte, oder als sie sich zum tausendsten mit ihrem Bruder Marc gestritten hatte.
So oft hatten sie sich gegenseitig geholfen, wenn es mal eng wurde.
Und wenn sie sich mal gestritten hatten, dann nur wenn es darum ging, welche Farbe unsere Tischdecke haben sollte.
Ich wusste wirklich nicht, was meinen Vater dazu veranlasst hatte, uns einfach so im Stich zu lassen.
Hatte er seine Jugend zurück haben wollen?
Oder hatte er, wie Opa Gustav, eine andere kennengelernt?
Es gab so viele Möglichkeiten und trotzdem ergab keine von ihnen richtig Sinn.
Mein Dad war kein Mann, der seine Geliebten einfach so verließ.
Ich wusste, dass er Mum geliebt hatte, und trotzdem war er jetzt weg.
Wahrscheinlich für immer.

Alice!", hörte ich plötzlich meine Mutter rufen, während sie die Treppe zu meinem Zimmer hoch ging.

"Oh, Mist!", fluchte ich leise und bedeckte meinen Planer sowie meine "Mission- Dad- finden"- Tafel mit einer grauen Decke, die ich einfach darüber hing.
Gerade noch rechtzeitig schmiss ich mich auf mein Bett und tat so, als hätte ich die ganze Zeit für die Schule gelernt.
Keine Sekunde später stand auch schon meine Mum im Türrahmen.
Gespielt überrascht hob ich meinen Blick und sah sie an.
Sie lächelte, allerdings hatte sie gleichzeitig auch Tränen in den Augen.
Sobald sie dies bemerkte, schluckte sie die in ihr gesammelte Trauer wieder herunter.
Fragend räusperte ich mich: "Alles okay?"
"Ähm... Na klar, ich... Deine Großeltern sind zu Besuch. Sie wollen dir ein paar Dinge deines... Vaters bringen", antwortete sie, wobei es ihr eindeutig schwerfiel darüber zu reden.
Ich seufzte: "Na gut."
Bevor ich jedoch durch die Tür gehen konnte, hielt sie mich sanft am Arm fest: "Wenn du das nicht willst, dann ist das okay. Ich sag deinen Großeltern einfach, dass du nicht kannst."
"Ich kann das, Mum. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen", antwortete ich mit einem Lächeln.
'Oh man, du bist eine echt schlechte Lügnerin, Alice', sagte ich mir in Gedanken.
Trotzdem ließ mich meine Mum los und sah mich noch einmal prüfend an, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand.
Meine Mum konnte das alles anscheinend noch weniger als ich, denn eigentlich mochte sie die Eltern meines Vaters sehr gerne.
Ich atmete einmal tief aus und ging dann die Treppen hinunter, in Richtung meiner Großeltern.
Diese saßen schon an unserem Esstisch und hoben überrascht ihre Köpfe als sie mich sahen.
Sofort sprang Grandma Kathleen auf und umarmte mich stürmisch.
"Ach Katy, zerquetsch doch nicht unsere Alice", lachte Grandpa Jonathan und tupfte sich mit einem Tuch seine Halbglatze ab.
Anscheinend waren sie gerade erst angekommen, denn sie hatten beide noch ihren Mantel an.
"Ähm... Soll ich euch eure Jacken abnehmen?", fragte ich verwirrt.
Beide wechselten kurz einen Blick, antworteten dann jedoch: "Nein danke, wir wollten nur kurz vorbeikommen, um dir etwas zu bringen."
"Was denn?"
"Einen Moment."
Grandpa Jonathan wühlte in seiner Aktentasche herum, bis er einen glänzenden Gegenstand herausholte.
Bei näherem Betrachten sah ich, was es war.
"Eine Uhr?", fragte ich.
"Nicht irgendeine Uhr", erwiderte Grandma Kathleen und nahm sie Jonathan aus der Hand.
Noch immer sah ich die beiden abwartend an.
"Es ist die Uhr deines Vaters", erklärte Grandpa.
"Oh", sagte ich nur.
Aber doch, tatsächlich.
Diese Uhr hatte er immer getragen.
"Wie ist sie zu euch gekommen?"
"Ein paar Wochen vor seinem... Verschwinden hat er sie zu uns gebracht und gesagt, dass wir sie dir geben sollen, falls etwas mit ihm passiert."
"Was meinte er mit 'falls etwas mit jhm passiert' ?"
"Das haben wir uns zuerst auch gefragt. Als er dann jedoch plötzlich weg war, wussten wir, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Die Uhr haben wir dabei völlig aus den Augen verloren. Wir haben sie erst vor Kurzem wiedergefunden."
"Aber wieso...?"
"Das wissen wir auch nicht. Wir wissen nur, dass diese Uhr irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun hat. Verprich uns, dass du auf sie aufpassen wirst."
"Das werde ich", murmelte ich.
'Das werde ich.'

Juhuuu, erstes Kapitel fertig!
Wie findet ihr es?
Und was denkt ihr, hat die Uhr mit dem mysteriösen Verschwinden von Alice' Vater zu tun?
Schreibt's mir in die Kommentare!

Ich wünsch' euch noch einen schönen Tag. 💙
Lg, Lilia. <3

ZeitenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt