Nebel zog über die Felder und brachte die Art kühler Nässe mit sich, die sich einem direkt klamm auf die Haut legte. Was nicht unüblich für den Norden um diese Jahreszeit war. Es war früher Morgen, als die Kutsche über die unebene Straße ihrem Ziel entgegen schaukelte und dabei wohl kein Schlagloch auf dem engen Weg ausließ. Der Kutscher hatte es nicht eilig und trieb seine Pferde nicht zu sonderlicher Geschwindigkeit an.
Aus der Ferne war bereits die Stadt zuerkennen. Dort wo Landwirtschaft keine Chance gegen die hohen Schornsteine hatte, die sich aus dem Grau des Tages gegen den Himmel erhoben, wie stumme Statuen. Ein Mahnmal. Ein Anblick von Heimat und von Sehnsucht. Das war es für die junge Dame, die im Inneren der Kutsche saß und sich an dem Anblick gar nicht satt sehen konnte. Ihr kam es vor, als wäre sie ein ganzes Leben lang weg von diesem Ort gewesen. Oder als hätte sie lange geschlafen und würde endlich erwachen. Harsham erstreckte sich vor ihr und hätte sie keine gute Erziehung genossen, würde sie sich vergessen und die Kutsche zur Eile antreiben. Zu lange war die Reise gewesen und ihre Glieder waren steif von langen Sitzen in dieser begrenzte Umgebung.
Betsy ihr gegenüber schlief, mit ihrer Stickarbeit auf ihrem Schoß und mit dem Kopf angelehnt an das Polster. Sie war in den Schlaf gedriftet, kaum hatte ihr fahrender Untersatz sich in Bewegung gesetzt. Doch das junge Fräulein, auf das sie eigentlich ein Auge haben sollte, hatte vor Aufregung keine Ruhe gefunden. Oh, wie sie es vermisst hatte. Fast wünschte sie sich,dass sie das Fenster öffnen könnte, um den vertrauten Dampf von Harsham aufzunehmen und dessen Geschäftigkeit in sich aufzunehmen.Denn ganz gleich, wie früh oder spät es sein musste, die Maschinen in den Fabriken standen nicht eine Minute still. Wie ein gut geöltes Werk, liefen sie immer im gleichen Takt. Dem Herzschlag von Harsham, der ebenfalls in ihrer Brust pumpte.
Hier war sie aufgewachsen. Zwischen den engen Gassen, dem kleinen Flüsschen, dass direkt am Stadtrand vorbeiführte und zwischen den Maschinen ihres Vaters. Die Desmonds waren die erfolgreichste Handelsfamilie nördlich der Themse und sie hätte nicht stolzer sein können die Tochter ihres Vaters zu sein.
Über die Brücke hinweg, streiften sie die ersten Häuser der Stadt. Sie hielt es nicht länger aus und lehnte sich rasch nach vorne, um Betsy zu wecken.
„Besty! Betsy, wir sind da. Wach endlich auf, du Faulpelz", lachte sie. Die behäbige Dame schreckte hoch, wie aus einem Alptraum und wusste wohl im ersten Moment kaum,wo sie sich befand, noch dass ihr Schützling es war, die an ihrem Bein gerüttelt hatte. Doch diese hatte sich bereits abgewendet und drückte sich undamenhaft an der Scheibe ihre Nase platt, während sie die Eindrücke in sich aufsog. An ihr vorbei zogen die Häuser. Auf der Straße herrschte der morgendliche Betrieb an Arbeitern, die zu den Fabriken strömten, auch zu der, die ihrem Vater gehörte und sie folgten ihnen.
„Miss Rose, setzen Sie sich doch", kam nun endlich die erwartete Rüge. Das Fräulein seufzte und strich über ihre Reiserobe. Der Stoff floss in einem sanften mintgrün über ihre Beine, bis zum Boden. Der ausgestellte Rock nahm den meisten Platz ein und sie hatte gut und gerne darauf verzichten können. Betsy war es, die darauf bestanden hatte, denn sie müsse präsentable für ihre Eltern aussehen. Wenigstens darin stimmte sie ihrer Zofe zu, die den weiten Weg auf sich genommen hatte, um die junge Dame des Hauses abzuholen. Die letzten Jahre hatte sie an der Küste verbracht auf einer Schule für Mädchen, die ihr die beste Ausbildung bot. Nicht, dass die Desmonds sich keinen Hauslehrer leisten konnten, doch ihre Mutter hatte darauf bestanden ihr das zu bieten, was sie selbst nie hatte haben können. Eine gute Lehre für einen klugen Kopf. Sie war ihr dankbar dafür, auch wenn sie Tränen vergossen hatte, weil sie so weit von ihrer Familie und von Harsham entfernt war. Aber nicht länger.
Die Straßen wurden immer vertrauter und plötzlich waren da die gusseisernen Tore, hinter denen die Baumwollfabrik der Familie Desmond sich befand. Das größte Werk am Ort und was für ein Anblick dieses Bollwerk war.
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Revolution of Heart
Historical Fiction1855. Während der industrielle Fortschritt unaufhörlich voranschreitet, wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Die Unzufriedenheit wächst und alte Werte werden in Frage gestellt. Ein Umbruch steht kurz bevor. In diesen stürmischen Zeit...