Unbeschwerte Tage

78 6 2
                                    


Rose fuhr mit den Fingerspitzen über ihre blonden Haare, bis hin zu dem Knoten an ihrem Hinterkopf und berührte die silberne Spange, welche fest darin saß. Im Spiegel sah sie die wenigen Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen. Betsy hatte sie kunstvoll angeordnet. Sie strich diese zurück, dann wieder so, dass sie über ihrer Schläfe waren. Sie fand es ungewohnt, dabei war es höchstens eine kleine Veränderung, die jedoch für ihr Empfinden einen ganz anderen Anklang hatte. Eine Bedeutung, die ihr erst in diesem Augenblick bewusst wurde. Sie war nicht länger ein Mädchen, mit Schleifen im offenen Haar, sondern eine junge Dame, die ihre Haarpracht hochgesteckt trug. Es betonte ihre hohen Wangenknochen, fand sie und ihre Stirn, die leicht gerunzelt war.

Rose hätte lachen können. Hier saß sie, in ihrem Zimmer vor der dunklen Kommode und betrachtete ihr Gesicht, als würde sie es das erste Mal sehen. Sie mochte nicht, was sie sah. Aber das lag nicht an Betsys Bemühungen um ihre Frisur, sondern an dem Gefühl, dass sich in ihrer Brust ausbreitete.

Die unbeschwerten Tage waren vorbei und sie würde nie mehr dahin zurück können. Es wurde für sie Zeit ihren Platz einzunehmen. Rose war nicht dumm. Sie wusste ziemlich sicher, was der Plan für sie war. Es war in das Gesicht ihrer Zofe geschrieben. Ein zufriedenes Lächeln, erfüllt mit der Zukunft, die sie bald erwarten würde. Das reichte aus, um ihr einen Knoten in die Brust zu setzen. Sie dachte zurück an ihre Jahre in dem Internat für junge Damen. Die Lehrerinnen, viele darunter Nonnen, achteten streng auf ihre Schützlinge und es war eine Erziehung voller Regeln gewesen, doch im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte sie viele Freiheiten genossen.

Vorbei waren die Tage, an denen sie über den Vorhof der Fabrik streifte oder sich davon stahl, um die Stadt zu erkunden. Nur ein Mal hatte sie es zu weit getrieben. Im Park hatten sie ein paar Kinder aus der Nachbarschaft angestiftet aufeinen Baum zu klettern. Nicht nur hatte sie sich ihr Kleid und den Unterrock an den Ästen zerrissen. Sie war gefallen und von oben bis unten in Schrammen nach Hause gebracht worden. Ihr Vater war außer sich gewesen und hatte ihre verboten mit den Kindern der Arbeiter zuspielen.

Wie hatte sie annehmen können, dass sie ihr Leben selbst in der Hand hatte? Lange hatte sie sich vorgestellt, dass sie den Platz ihrer Mutter einnehmen würde. Sie bewunderte sie dafür, dass sie eine Hand für das Geschäftliche hatte. Vater ließ sie über seine Geschäftsbriefe und die Finanzen sehen, denn er sagte immer, dass ihre Mutter ein Auge dafür hatte und ihre Kontrolle seinen Verstand schärfte. Sie waren eine Einheit,die diese Fabrik zusammenhielt.Wie gut gewebter Stoff, denn man nur mit einer scharfen Schere zerschneiden konnte. Zum ersten Mal wünschte sie sich, sie wäre Henry. Ein dummer Gedanke, der sie den Kopf schütteln ließ. Sie konnte nicht den ganzen Morgen da sitzen und Trübsal über ein paar Haare blasen.

Sie schnitt ihrem eigenen Spiegelbild eine Grimasse und erhob sich vom Hocker.


„Ah, sieh dir deine Schwester an. Sieht sie nicht wundervoll aus?", stieß ihre Mutter verzückt aus, kaum das sie im Türrahmen des kleinen Salons erschien, in dem die Familie vorzog ihr Frühstück einzunehmen. Sie war ein wenig verspätet, doch niemand rügte sie dafür. Stattdessen stand Henry auf, um ihr den Stuhl neben sich zurecht zu rücken. Gestern war sie zu erschöpft von der Reise gewesen, um sich lange mit ihm zu unterhalten. Zudem war er beschäftigt gewesen, so wie Mr. Desmond an diesen Morgen, denn der Platz ihres Vaters war verwaist.

Ihre Mutter musste ihr Blick hin zum rechten Tischende aufgefallen sein: „Es gab ein Problem mit einer Jenny*."

Es schien nicht zu schwerwiegend zu sein. Dennoch würde ihren Vater nichts davon abhalten die Reparatur selbst zu überwachen und dafür zu sorgen, dass die Produktion ohne Verzögerung weiter lief. Selbst durch die dicken Wände ihres Hause, konnte sie die Maschinen hören. Sie standen nie still und womöglich würde sie sich daran erst wieder gewöhnen müssen. Stunden ehe sie einen Fuß aus ihrem Bett gesetzt hatte, waren die ersten Arbeiter in das Fabrikgebäude geströmt.

Henry goss Tee in ihre Tasse, währender den Faden des Gespräches wieder aufnahm. „Wir haben ein paar Krankheitsfälle. Der Herbst bringt wie jedes Jahr die Grippe vom Land. Die Kinder stecken sich gegenseitig an." Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. Wer nicht arbeitete bekam keinen Lohn, so einfach war die Rechnung. Im Umkehrschluss bedeutete das allerdings, dass sie rasch einen Ersatz finden mussten.

„Nun, wenn sie das Geld nicht nötig haben, soll das nicht unser Verlust sein", gab Mrs. Desmond zurück. Sie hatte eine pragmatische Sicht auf diese Dinge.

„Ich habe gehört, dass in Bath eine Art Impfung gegen die Grippe geben soll", warf Rose ein. Jane, eine Freundin aus der Schule, die aus Bath stammte und vor ein paar Wochen bereits dorthin zurückgekehrt war, hatte ihr davon berichtet. Ihre Mutter liebte die neusten Erfindungen der Ärzte, denn sie hatte nach ihrer Auskunft ein zartes Gemüt.

„Man nimmt die Tinktur zur Vorbeugung und bleibt den ganzen Winter lang gesund. Das wäre etwas für die Arbeiter..." Gerade ausgesprochen, war ihr klar, wie naiv sie klang. Mrs. Desmond hielt wenig von diesen modernen Medizinern und abgesehen davon, war ihr bewusst, dass keiner der Leute in der Fabrik ausreichend verdiente, um sich einen Löffel dieser Tinktur zuleisten. Ihre Mutter streckte ihren Arm über den gedeckten Tisch und tätschelte ihr die Hand.

„Mach dir darüber keine Gedanken, Liebes. Benutz' deinen hübschen Kopf lieber, um mir bei der Planung unseres jährlichen Dinners zur Hand zu gehen."

~~~~~~~~~~~~~

* Spinnmaschine zum Verspinnen von Baumwolle zu Garn

Revolution of HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt