Kapitel 4

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"Always see the good in other people."

Der Rest der Woche verlief so gut wie ereignislos. Donnerstags verkauften wir endlich unser erstes Kleid an eine Kundin und einen Pullover für ein Kleinkind. Freitags kaufte dann ein älterer Herr grün-lila gestreifte Socken, nachdem er sich von mir hatte beraten lassen, welche am besten unter seine Sandalen passten.
Ich hoffte wirklich, dass die Arbeit im Laden bald spannender werden würde. Aber wahrscheinlich musste es sich erst einmal herumsprechen, dass jetzt zwei äußerst nette und attraktive junge Frauen einen Laden in der Stadt hatten, in dem es hochwertige und geschmackvolle Designerkleider gab.

Am Samstagmittag bereitete ich mich auf das kommende Treffen vor. Ich zog schwarze Rosenohrringe an und ein schwarzes Shirt mit Spitze, außerdem eine graue Jeans und schwarze Lackslipper.
Viele unserer eigenen Klamotten hatten wir selbst gemacht; es gab sie nicht in unserem Laden zu kaufen, sie waren Unikate. So auch das Shirt, das ich trug.
Emily hatte es ja lieber bunt und auffallend. Heute trug sie ein weißes T-Shirt mit einem riesigen Grimassen-Emoji vorne drauf. Ihre Hose hatte heute die Farbe Grashalm.
Emily war anders, ganz klar. Aber das war eben, was ich an ihr mochte. Denn ich war ja auch anders. Und der Kleidungsstil ist ja nicht die Basis für eine gute Freundschaft. Es gibt wichtigeres, und wir hatten das ineinander gefunden.
"Bin fertig!", rief Emily und zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu.
"Gut, fahren wir", erwiderte ich und schnappte mir meine Schlüssel, bevor wir mit den Taschen die Wohnung verließen.
"Heey, wo wollt ihr denn hin?", hörten wir plötzlich die Stimme unseres Nachbarn.
"Wir schlafen heute bei Eddie und Nick", betonte ich.
"Oh, soll ich dich hinfahren?", bot Ryan an.
"Ich habe selbst ein Auto", teilte ich ihm überflüssigerweise mit.
"Achso, na dann, gute Fahrt! Ich komm dann morgen nochmal vorbei!"
"Morgen sind wir nicht da", erwiderte ich.
"Wo seid ihr morgen?", fragte er interessiert.
"Wissen wir noch nicht", sagte ich, bevor ich einfach die Treppe hinunterging. Emily folgte mir unsicher, aber mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit hatte sie ihm noch ein entschuldigendes Lächeln zugeworfen.
"Womit haben wir diesen Nachbarn verdient?",  fragte ich, als wir im Auto saßen, unser Gepäck im Kofferraum verstaut.
"Der will dich", meinte Emily schelmisch, während ich anfuhr.
"Flachlegen, ja", fügte ich angewidert hinzu.
"So wollte ich es jetzt nicht ausdrücken", überlegte Emily.
"Ahh nein, die Vorstellung verursacht gerade eine üble Migräne", meinte ich.
"Denk an was Schöneres. Wir verdienen ganz viel Geld mit dem Laden und können uns eine bessere Wohnung leisten. Da haben wir einen super heißen Nachbarn, der dich abgöttisch liebt!", fantasierte sie.
"Das klingt toll", erwiderte ich und hatte dabei das Bild eines blonden Typen im Kopf. Ein paar Sommersprossen sollte er auch haben.
Als wir bei Nick Zuhause angekommen waren, holten wir unsere Taschen aus dem Kofferraum und warteten, bis und jemand die Tür öffnete. Emily hatte ihren Schlüssel daheim vergessen, deshalb mussten wir klingeln.
Eine halbe Minute später wurde die Tür aufgerissen und Astrid nahm mich in die Arme.
"Ellie, schön, dass du nochmal da bist! Ich hab dich so lang nicht mehr gesehen!"
"Wir haben uns doch auf der Eröffnung gesehen", erinnerte ich sie.
"Ja, aber nur kurz", meinte sie und trat zur Seite, um uns ins Haus zu lassen.
"Nick ist in seinem Zimmer", informierte sie uns noch, bevor sie die Tür schloss und in die Küche verschwand.

Emily wollte gerade klopfen, als ich auch schon die Tür aufriss und in Nicks Reich wanderte. Er hatte bis eben gemütlich auf seinem Bett gelegen und schreckte nun hoch.
"Bonjour Monsieur", sagte ich überschwänglich und ließ meine Tasche auf den Boden fallen.
"Hi", meinte Emily und winkte.
"Ellie, kennst du keine Privatsphäre?", fragte er gespielt empört.
"Was ist das? Nie gehört", erwiderte ich schulterzuckend.
"Was wäre, wenn ich mir mal einen-"
"Nick, deine Schwester will so was nicht wissen", unterbrach Emily ihren Bruder panisch.
"Dann würde ich dir raten, den Schlüssel im Schlüsselloch an der Tür umzudrehen", erklärte ich mit sorgfältiger Betonung der Hauptwörter.
Nick schüttelte grinsend den Kopf und stand von seinem Bett auf.
"Ihr könnt in meinem Bett schlafen und für Eddie und mich hol ich Matratzen", teilte er uns dann mit.
"Wie, doch nicht im Wohnzimmer?", fragte Emily verwirrt.
"Nö, dachte, mein Zimmer ist gemütlicher", erwiderte Nick.
"Du warst nur zu faul, vier Matratzen untenhin zu legen, gib's zu", meinte sie.
"Ich? Zu faul? Niemals", behauptete Nick. "Deswegen gehe ich jetzt auch in den Keller und hole zwei Matratzen", fügte er noch hinzu, bevor er das Zimmer verließ.
"Naja gut, richten wir uns halt schonmal ein", schlug ich vor und räumte seine graue Bettwäsche auf den Bürostuhl. Wir holten frische Bettwäsche aus dem Schrank im Flur und legten sie auf sein 1,40 Meter breites Bett.
Ein paar Minuten später kam Nick mit zwei Luftmatratzen zurück, die er aufpumpte, während Emily Bettwäsche für Eddie besorgte und ich mich aufs Bett bequemte.
"Was gucken wir denn eigentlich?", fiel mir die ungeklärte Frage über den Kinofilm ein.
"Da kommt so ein Thriller, Teddy. Der klingt eigentlich ganz interessant", erwiderte Nick.
"Teddy? Da mach ich mir ja schon beim Namen in die Hose", meinte ich sarkastisch.
"Die Beschreibung sagt nichts Genaues über den Film aus, aber guck dir mal das Filmplakat an, das sieht voll gut aus." Nick legte seine Bettwäsche auf eine der Luftmatratzen und setzte sich an die Bettkante.
Ich nahm mein Handy heraus und suchte im Internet nach dem Film, um mir das Plakat anzusehen.
"Hm, ja, sieht ganz gut aus", gab ich zu. Ein zerzauster hellbrauner Teddybär mit gelb leuchtenden Augen sah durch einen Spalt in der Tür. In diese war der Name des Films eingeritzt.
"Dann überzeug davon mal Eddie und Emily", meinte ich und legte das Handy auf Seite.
"Das könnte schwierig werden, ja", gab Nick zu bedenken.
"So, bin wieder da! Hab erst keine Bettwäsche mehr gefunden, aber hier ist noch welche!", rief Emily atemlos. Sie hatte wohl das ganze Haus durchsucht.
"Gut! Eddie dürfte auch jeden Moment kommen, dann kann es losgehen", erwiderte Nick und schlug die Hände zusammen.
Wir machten uns auf den Weg nach unten, um bei Astrid auf meinen Bruder zu warten. Sie gab uns Kekse, die natürlich himmlisch schmeckten. Dann hörten wir die Autotür von Eddies altem Ford und begaben uns zu ihm nach draußen.

Fire Red - Mit den Flammen spielt man nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt