Kapitel 11

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"Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen."

Weil Albert und Marge am darauffolgenden Tag nach England flogen, sah ich bei Harry, dem Haflinger der beiden, nach dem Rechten.
Ich beschloss, ihm die Möhren mitzunehmen, denn was sollte ich sonst damit machen? Selbst essen wollte ich sie nicht, denn das käme mir irgendwie schweinzig vor. Wenn Harry die aß, dann hatte das eine befriedigende Wirkung, weil ich mir das beste Stück des Unbekannten vorstellte, wie es gnadenlos zermalmt wurde.
Und der Haflinger schien sich über das Geschenk zu freuen. Fröhlich knabberte er an den Karotten herum, während ich seine Hinterlassenschaften aufgabelte und in eine Schubkarre warf.
"Jaja, das schmeckt, nicht wahr?" Ich grinste das Pferd an und klopfte ihm liebevoll auf den Hintern, bevor ich die volle Schubkarre griff und in Richtung Misthaufen fuhr.
Beim Abladen überlegte ich, wohin ich mit Harry reiten könnte. Vielleicht zum See? Da waren wir letztes Mal schon gewesen. In den Wald? Nicht schon wieder. Auf die Felder? Ja, in den Feldern könnte ich Fotos von Harry machen! Harry, der Haflinger im Hafer. Wenn ich ein besonders gutes Foto hinbekommen würde, könnte ich das gegen das Kätzchen in unserem Laden austauschen.
Voll Vorfreude drehte ich um und brachte die Schubkarre in die Abstellkammer, dann holte ich in der Sattelkammer Sattel und Zaumzeug ab und ging zurück zu Harrys Box.
Doch wo war er?
Die Tür war geschlossen, aber Harry war nirgends zu sehen. Ich trat näher, und jetzt sah ich ihn. Er lag auf dem Boden, schwitzend und schwer atmend. Alarmiert ließ ich Sattel und Zaumzeug fallen, öffnete die Tür und stürmte zu ihm.
"Harry! Scheiße. Oh shit." Ich streichelte über seinen Hals und schaute in seine flehenden Augen, die lautstark um Hilfe schrieen.
"Ich bin gleich wieder da", wisperte ich, bevor ich aufstand und in Richtung Wohnhaus lief.
"Rudi! Rudi!" Ich klingelte Sturm und öffnete dann einfach die Tür des Hauses. "Rudi! Tierarzt!"
Ich hörte, wie er die Treppe heruntergepoltert kam. Kurz darauf erblickte ich sein verschrecktes Gesicht. "Was ist passiert?"
"Harry hat eine Kolik oder so!", rief ich panisch und machte schon wieder kehrt. Hinter mir schlüpfte Rudi in seine Latschen, während das Handy tutete. Ich hoffte innigst, er würde schnell kommen.

Ich setzte mich zu Harry und streichelte ihn beruhigend. Hin und wieder zuckte er, und seine Mähne war nass vor Schweiß.
"Schhh, Harry, alles wird gut. Alles wird gut, mein Kleiner, wirst schon sehen. Denk an was Anderes. Denk an leckeren Hafer. Oder an eine saftige Wiese, über die du galoppierst. Stell dir vor, du willst gerade stehen bleiben und von dem Gras kosten, dann siehst du eine wunderschöne Haflingerstute auf dich zukommen. Sie ist allein, genau wie du. Zuerst beschnuppert sie dich ein wenig, dann wiehert sie dich freundlich an. Zusammen galoppiert ihr über die Wiese, tollt herum und habt Spaß. Ins Detail will ich jetzt nicht gehen", meinte ich leicht lächelnd. Durch meine Stimme schien er sich tatsächlich etwas beruhigt zu haben. Also erzählte ich ihm, weil mir gerade nichts Besseres einfiel, von meinem heimlichen Verehrer.
"Das hast du schön gemacht", hörte ich schließlich eine ruhige Stimme von vor der Box. Der Tierarzt! Gott sei Dank. Ich hatte ja gar nicht gemerkt, dass die beiden hergekommen waren.
"Doktor, Sie sind da!" Ich wollte aufstehen und ihm Platz machen, doch er hielt mich auf.
"Bleib nur da und rede weiter auf ihn ein, das tut ihm gut." Er hob seinen Koffer vom Boden auf und kam zu uns in die Box.
"Na, Harry? Dann sehen wir mal, was wir für dich tun können."
"Siehst du, mein Kleiner, der Doktor ist da. Er wird dir helfen. Alles wird gut. Alles wird gut." Ich fragte mich, für wen ich das sagte. Für Harry oder für mich? Wahrscheinlich eher Letzteres.
"Wie ist das passiert, Ellie?", wollte Rudi wissen, der noch vor der Box stand und den Doktor beobachtete, wie er das Pferd abtastete.
"Ich weiß es nicht. Ich war die Box am Ausmisten, während Harry die Möhren gegessen hat, und als ich vom Misthaufen zurückkam, lag er auf dem Boden." Ich redete immer noch im ruhigen Ton.
"Doc, wie sieht's aus?", erkundigte er sich bei dem Arzt.
"Sieht schwer nach einer Kolik aus", meinte der Arzt bedauernd.
"Haben Sie ein Schmerzmittel?", fragte ich, und alle Ruhe war aus meiner Stimme gewichen.
"Ja, aber das klärt nicht die Ursache. Hat er irgendetwas Besonderes gegessen? Auf der Weide zum Beispiel?" Er sah von einem zum andern und kramte dann in seiner Tasche, bis er eine kleine Spritze gefunden hatte.
"Nein, er war heute noch gar nicht auf der Weide", erwiderte Rudi, "und gefüttert hat Ellie ihn." Der Arzt kramte wieder in seiner Tasche und holte ein Fläschchen hervor.
"Ich hab ihm alles normal gegeben, und die Möhren eben, aber an denen ist ja nix dran." Er riss die Verpackung der Spritze auf und ließ es in seinem Kittel verschwinden.
"Bist du dir da sicher?", hakte der Doktor nach und pikste mit der Spritze in den Deckel des Fläschchens.
"Naja, was soll an Möhren dran sein?" Er sog die Flüssigkeit in die Spritze, bis das Fläschchen leer war.
"Schimmel oder Bakterien zum Beispiel", zählte der Arzt auf. Er zielte genau, bevor er die Spritze an Harrys Hals ansetzte und die Nadel im Fleisch versank.
Dieser Moment war einer der wenigen, in denen ich nichts sagen konnte. War ich schuld an Harrys Kolik? Hatten die Möhren das verursacht? Aber ich hatte nichts gemerkt, sie hatten doch völlig normal ausgesehen!
"Hast du noch Möhren übrig?", fragte Rudi und sah sich im Stall um. Mein Blick fiel auf die restlichen fünf Karotten, die unschuldig in der Ecke lagen. Rudi bahnte sich vorsichtig einen Weg an uns vorbei und hob die Mohrrüben auf. Mit einem kritischen Blick betrachtete er das Gemüse, konnte aber keine Auffälligkeiten feststellen. Kurzerhand biss er in eine der Möhren und kaute langsam darauf herum. Nach wenigen Sekunden spuckte er das Stück neben sich ins Stroh.
"Da ist irgendwas dran", stellte er fest. „Was Brennendes."
"Was? Was ist da dran?", fragte ich panisch. Waren die Möhren doch schlecht? Waren giftige Tierchen darin, die jetzt Harry von innen aufessen wollten? Oder noch schlimmer... Hatte der Verehrer die Möhren präpariert?
Ich strich über Harrys schweißnasse Stirn und blickte in seine leidenden Augen.
"Harry, mein Kleiner, tut mir leid. I'm so sorry", murmelte ich. Sein Kopf zuckte kurz auf, dann fiel er wieder kraftlos auf den Boden.
"Doktor, was tun wir jetzt?", fragte ich, den Tränen nahe.
"Das Schmerzmittel scheint noch nicht zu wirken", erwiderte der Tierarzt gequält.
"Dann geben Sie ihm noch was! Er leidet doch!", rief ich verzweifelt.
Mit stillem Blick schaute der Doktor mich an.
Und dann überrollte es mich wie eine große Tsunami-Welle.
"Nein. Nein! Helfen Sie ihm! Bitte, Sie müssen ihm helfen!" Die Verzweiflung hatte mir Tränen in die Augen getrieben; ich musste mehrmals blinzeln, um den Doktor scharf zu sehen.
"Harry. Du schaffst das!", schluchzte ich und klammerte mich an das Pferd. Er durfte nicht sterben. Nicht Harry. Nicht heute. Niemals!
"Helfen Sie ihm schon! Helfen Sie ihm! Helfen Sie..." Meine Stimme verlor sich; ich legte mich zu dem Pferd und heulte in sein dichtes Fell hinein.
"Es geht nicht anders, Elena", hörte ich Rudis sanfte Stimme von irgendwo über mir. "Wir müssen ihn erlösen."
Er sollte aufhören, das zu sagen! Aufhören! Er wusste nicht, wovon er sprach; Harry würde es bald wieder besser gehen, wenn wir nur noch etwas abwarteten.
"Ich werde ihn jetzt erlösen, okay?" Der Tierarzt kramte wieder in seiner Tasche herum; Harry zuckte erneut, diesmal stärker als die vorherigen Male.
"Ist das okay, Elena?"
Nein! Nein, ich wollte es nicht hören! Ich wollte mir die Ohren zuhalten und laut singen.
"Elena, ist das okay? Er leidet, sieh ihn dir doch an!"
Verlangte er das wirklich von mir? Wie konnte er das verlangen? Wie konnte er von mir verlangen, dass ich der Tötung meines Pferdes zustimmte? Wie konnte er?
"Ich kann das nicht", sagte ich schließlich atemlos. "Ich kann nicht dieses kleine Wort sagen und damit über sein Leben richten." Zwei kleine Buchstaben, so unscheinbar und unschuldig. Nie war es mir so schwer gefallen, sie über die Lippen zu bringen.
"Du wirst ihm die Erlösung von seinem Schmerz schenken", redete der Doktor auf mich ein. "Sieh ihn dir an; sieh, wie er leidet!"
Widerstrebend richtete ich mich auf und blickte dem Haflinger erneut in die Augen. Wehleidig schrie er nach Erlösung. Ich ließ meinen Blick seinen zuckenden Körper hinunterwandern.
"Gibt es wirklich keinen anderen Ausweg?", fragte ich schließlich.
"Nein", sagte der Arzt unmissverständlich.
"Dann tun Sie es halt", erwiderte ich verbittert.
"Vielleicht ist es besser, wenn du nicht dabei bist", schlug Rudi vor.
"Das glaube ich kaum", erwiderte ich und sah ihn mit bösem Blick an. Tränen rannen meine Wange herunter, als ich sah, wie der Arzt ein anderes Fläschchen aus der Tasche nahm. Mein Herz pochte laut in meiner Brust; ich konnte da nicht hinsehen. Wie feige. Ich entschied, dass Harrys Leben enden sollte und dann hielt ich mir die Augen zu wie ein kleines Kind.
Ich schmiegte mich wieder an das Pferd und murmelte in sein Fell.
"I'm so sorry, my dear. Oh, you poor little boy. Harry. I love you!" Stille Tränen sickerten in sein Fell und vermischten sich mit dem Schweiß des Pferdes. Ich streichelte ihn sanft. Bloß nicht den Kopf heben. Immer weiter streicheln.
Irgendwann spürte ich seinen Atem nicht mehr. Ich richtete mich auf und sah den leblosen Körper des Pferdes an. Der Damm brach, und ich fing lauthals zu weinen an. Harry war doch immer da gewesen. Der kleine Harry. Ich wollte nicht glauben, dass es so schnell vorbei sein konnte. Warum so plötzlich? Warum jetzt? Was sollte ich Albert und Marge sagen? Das war alles meine Schuld. Warum hatte ich die verfluchten Möhren nicht einfach weggeschmissen? Ich hatte Harry getötet. Warum hatte ich das getan? Ich wollte die Entscheidung rückgängig machen, ich wollte seinen warmen Atem spüren und in seine fröhlichen Augen blicken. Ich hatte doch noch mit ihm ausreiten wollen! Jetzt würde ich nie wieder mit ihm ausreiten können. Verdammt! Abrupt sprang ich auf und lief aus dem Stall, doch wohin? Wo sollte ich hin? Ich wollte nirgendwohin, ich wünschte, es täte sich ein schwarzes Loch auf und würde mich verschlucken. Wo war ich hin, als meine Eltern gestorben waren? Da war ich auch herumgestreunt wie in einem Irrgarten.
Was würde ich denn Marge und Albert erzählen? Hey, ich hab euer Pferd getötet, hoffe, das geht klar. Oh Mann! Warum um alles in der Welt hatte ich das getan? Warum hatte mich der bescheuerte Doktor um Erlaubnis gefragt? Hätte er nicht einfach Rudi fragen können? Ich wollte nicht mehr denken. Je mehr ich dachte, desto mehr festigte sich der Gedanke, dass ich eine Mörderin war.
"Ellie!"
Ich drehte mich um; Rudi stand ein paar Meter entfernt neben dem Weidezaun.
"Ich werde Albert informieren, wenn du willst."
Ergeben tat ich ein paar Schritte zu ihm.
"Ist das nicht feige? Immerhin habe ich ihn umgebracht."
"Red keinen Blödsinn, Ellie. Wir haben ihm geholfen. Es gab keinen anderen Ausweg, du hast den Doc gehört." Seine Sorgenfalten traten hervor. Ich fragte mich, ob Albert Harry ersetzen würde.
"Ich weiß nicht, ob ich es ihnen sagen kann", gab ich zu.
"Das ist okay", meinte Rudi verständlich. "Ich benachrichtige sie. Aber den Urlaub will ich ihnen nicht verderben."
Ich nickte monoton. Was sollte ich jetzt tun? Am sinnvollsten erschien mir, einfach hier stehen zu bleiben. Meine Beine schienen schwer wie Blei und mein Kopf drohte zu bersten. Da waren zu viele Gedanken und Gefühle, die auf mein Gehirn einstachen wie Nadeln in ein Nadelkissen.
"Komm, setz dich bei mir in die Stube. Du wirst gleich abgeholt" meinte Rudi.
"Nein, ich will hier stehen bleiben." Ich starrte jetzt resigniert ins Leere und hoffte, er würde gehen.
"Da?", fragte er verdutzt. Als ich nicht antwortete, meinte er noch "Okay" und ließ mich dann endlich wieder allein. Es tat so gut, einfach da zu stehen und nicht zu denken. Ich verlor jegliches Zeitgefühl, sogar das Blinzeln vergaß ich. Als dann irgendwann Schritte vom Hof kamen und ich aus Reflex blinzelte, fingen meine Augen höllisch zu brennen an. Wahrscheinlich hatte ich gerade einen Weltrekord aufgestellt, und niemand hatte es bemerkt. Aber der Weltrekord war mir im Moment sowieso egal.
"Nick?" Meine Stimme war ein erbärmliches Krächzen.
"Ellie." Nick überbrückte den Abstand zwischen uns und nahm mich in seine Arme. Ich war überrascht von der Wirkung dieser Tat. Sein Körper war so warm und kraftvoll, dass ich mich gleich viel stärker fühlte.
"Was machst du hier?", fragte ich leise.
"Dich abholen natürlich." Er brachte wieder ein wenig Abstand zwischen uns und sah mich mit einem leichten Lächeln an. "Komm." Dann legte er ganz selbstverständlich einen Arm um meine Schulter und führte mich über den Hof zu meinem Auto.
"Wo sind deine Schlüssel?", wollte er wissen, als wir bei der Fahrertür standen.
"Oh, stimmt..." Das hatte ich total vergessen. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass Nick die Schlüssel hatte. Ich fummelte an dem Reißverschluss meiner Jackentasche herum, aber bekam sie nicht auf. Warum zitterte ich denn so?
"Lass mich das machen", meinte er liebevoll und zog sanft meine Hand weg. Wie gelähmt sah ich ihm zu, als er die Tasche öffnete und meinen Schlüsselbund herausfischte.
"Danke", meinte ich monoton und griff nach dem Schlüssel, aber Nick wollte ihn mir nicht geben.
"Bei dir piept's wohl. Ich fahre. Du... sitzt da", erklärte er, als spräche er mit einem kleinen Kind oder einer sehr alten Person.
"Aber wie kommt dein Auto heim?" Ich schaute mich auf dem Hof um, konnte sein Auto aber nirgendwo sehen.
"Ich bin mit dem Bus gekommen. Und jetzt steig ein, sonst fahr ich ohne dich." Ich nickte und umrundete meinen Golf, um auf der Beifahrerseite einzusteigen. Ich sah meinen Armen zu, wie sie mich anschnallten, dann blickte ich resigniert aus dem Fenster.

Fire Red - Mit den Flammen spielt man nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt