1. Dämmerung

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Die Königin stand an der Brüstungsmauer des Burggartens. Es war ein kühler Herbsttag und vor wenigen Augenblicken war es dunkel geworden. Die toten Blätter auf den mit Granit gepflasterten Gehwegen wurden durch die Luft gejagt und raschelten leise. Man könnte glauben, dass sie auf die stürmische See vor ihr hinausblickte, aber nur sie wusste, dass ihr Blick nach innen gerichtet war. Die Wellen schlugen heftig gegen das fast unendlich weit entfernte untere Ende des Felsens. Sanft glitten ihre Finger über die braun-weiße Sperbereule, die entspannt vor ihr saß. Oft waren sie beide hier und genossen die Ruhe, die nur durch die Geräusche der Natur untermalt wurde. Die smaragdgrüne Robe der Blaublütigen wurde hin und her gerissen, nur sie selbst stand beinahe so unberührt, wie der uralte Baum neben ihr. Der Pelz um ihre Schultern spendete ihr Wärme, aber dennoch spürte sie Unbehagen im Nacken. Einerseits durch die harschen Berührungen des Windes, andererseits durch das Kitzeln der einzelnen nussbraunen Strähnen, die sich langsam aus ihrer Hochsteckfrisur befreiten. Die Kälte des Bodens kroch langsam durch die Sohle ihrer Füße und bald würden die ersten Zehenspitzen taub sein. Gedankenverloren strich sie sich mit der freien Hand kurz über den Bauch.

Plötzlich vernahm sie aus den Tiefen des Gartens Tumult. Kurz überlegte sie, ob es sie kümmern sollte, aber sie beschloss sich wieder ihren Fiktionen zu widmen. Die Schwärze der Nacht legte sich immer mehr in den vielen Winkel nieder. Der Mond war bereits aufgegangen, doch die vielen Schichten der vorbeiziehenden Wolken verdeckten ihn immer wieder. Nicht einmal das Funkeln der Sterne konnte Licht spenden. Die raue Luft nahm immer mehr zu und man konnte sie immer deutlicher hören. Das Meer tat es ihr gleich. Die Königin und ihre Begleiterin jedoch waren in ihrer Art unverändert. Die Unruhe wurde langsam durch Schritte ersetzt. Das Klimpern von Rüstung und Waffen gesellte sich dazu.

„Meine Königin." Mit diesem Satz blieben drei Personen einige Meter von der Genannten entfernt stehen. Die Eule breitete die Flügel aus und flog in die Dunkelheit hinaus. Die Königin legte die nun frei gewordene Hand in die andere.

„Was gibt es", fragte sie ohne ihre Haltung zu ändern.

„Eure Hoheit, eine dringliche Angelegenheit erwartet euch im Thronsaal", antwortete eine ihr vertraute Stimme.

„Was kann denn des nächtens so wichtig sein", gab sie ungerührt zurück.

„Entschuldigt, Hoheit, der Mann bestand darauf, diese Information nur euch selbst mitzuteilen."

Die Königin drehte sich elegant um ohne dabei die Position ihrer Hände zu verändern, wie sie es schon zu frühester Kindheit gelernt hatte. Ihre durchdringenden Augen betrachteten die Männer vor ihr. Sie standen in Dreiecksformation. Ganz vorne Athelard, ihr persönlicher Leibwächter, erkennbar durch den grün-silber gestreiften Umhang, den drei Narben auf seiner Wange und dem edlen, rötlichen Bart, der keineswegs zu seinem groben Gesicht passte. Einen so wichtigen Mann konnte man ansonsten auch durch den Helm mit der ebenso grün bemalten Spitze identifizieren. Aber aufgrund der vorangeschrittenen Tageszeit hatte er ihn wohl schon beiseite gelegt und nun war sein schütteres, kastanienbraunes Haar zu sehen. Beiderseits hinter ihm standen zwei Stadtwachen in voller Montur. Sie konnte keinen von beiden zuordnen. Der Eine war so durchschnittlich, dass es gut tausend von ihm geben könnte und der andere sah so jung aus, dass es ihr unmöglich schien ihn kämpfen zu sehen.

„Nun gut," sagte sie hörbar entnervt, „lasst uns gehen." Sie hob ihren Rock an und die Männer vor ihr wechselten die Formation, sodass Athelard ihnen voran ging. Der weite Weg zurück in die Burg ließ sie merken, dass es doch kühler war, als sie es überhaupt wahrgenommen hatte. Oder aber der Wind hatte wieder zugenommen. Ihre Fingerspitzen waren mittlerweile eiskalt, ebenso wie ihre Ohren, an denen ihre silbernen, kettenförmigen Ohrringe baumelten.

Am großen Tor angekommen, öffneten es die beiden Wachmänner. Die Königin trat ein und die Wärme schlug ihr regelrecht entgegen. Die Kerzenhalter an der Wand leuchteten den Weg zum Ziel. Das Portal wurde wieder geschlossen und ihre Garde ging nun hinter ihr. Athelard war noch immer an der Spitze, das gewährte ihr maximale Sicherheit. Ihre Finger fingen an zu kribbeln und sie hasste diese Gefühl. Am liebsten hätte sie angefangen ihre Hände zu kneten, doch wäre es unangebracht gewesen. Auch in ihre Füße kehrte das Gefühl zurück, was ihr ebenso nicht sonderlich zusagte. Wenigstens hatte sie zuvor nicht das unangenehme Drücken ihrer Schuhe gespürt.
Sie bogen um ein paar Ecken bis die nächste Tür zur Seite schwang. Der Thronsaal war nur noch halb durch die Kandelaber beleuchtet. Der Holzboden und der Teppich wirkten viel dunkler als sonst. Die Marmorsäulen an den Seiten erweckten den Anschein, dass Blut an ihnen herabrann. Auch die Wandmalereien hinterließen einen scheinbar dunkleren Eindruck. Enris Mondsang spielte gerade ein paar sanfte Melodien auf der Laute.

„Hinfort mit euch", rief die Königin ihr zu und wedelte dabei bedacht mit den Händen. Erschrocken hörte die Musikerin sofort auf zu spielen und verschwand durch eine der Seitentüren.

Auf dem Weg zu ihrem herrschaftlichen Sitz mit den vielen Schnitzereien kam ihr ihr Berater Odinel entgegen und machte bereits entschuldigende Gesten.

„Entschuldigt vielmals, Hoheit, ich habe wirklich versucht ihn wegzuschicken", bezeugt er vorsichtig.

„Verschont mich, Vicar." Sie macht eine Handbewegung und bedeutet ihm damit, still zu sein.

Sie stieg die letzten Absätze hinauf und ließ sich auf dem Thron aus Ebenholz nieder. Sogleich sprang ihr eine weiße Katze auf den Schoß und sie begann sie wie automatisiert zu streicheln. Athelard kam neben ihr zum stehen. Odinel versteckte sich regelrecht schräg hinter ihr und die beiden Wachen hatten schon längst ihre Position am unteren Ende der Stufen eingenommen.

„Lasst ihn herein", ordnete sie bedeutungsvoll an.

Die beiden Männer, die das Tor öffneten, wirkten nervös und durcheinander. Man hatte sie wohl erst in letzter Sekunde zu ihrem jetzigen Posten berufen. Es machte auch den Anschein, als hätten sie viel mehr Mühe, die schweren Seitentüren zu bewegen. Neugierig blickte die Königin dem Ankömmling entgegen.

Ein Mann ging schnellen Schrittes herein, gerade dass er nicht lief. Er war eindeutig kein Soldat, aber auch kein Diplomat. Sein Gewand war zerschlissen und hatte Farben, die die Königin keinem anderem Herrschaftsgebiet zuordnen konnte. Sie dachte kurz ein Kettenhemd unter seiner Kluft zu erkennen. Die Atmosphäre im Raum spannte sich merklich an. Als er nun vor dem Absatz stehen blieb und kurz niederkniete, konnte sie ihn genauer beschauen. Er musste wohl mittleren Alters gewesen sein, hatte noch volles, schwarzes Haar und einen ungepflegten Bart. Seine Augen waren tief eingefallen und von dunklen Ringen umgeben, die Lippen dünn und aufgesprungen, auf der Stirn eine noch frische Verletzung. Er atmete schwer, was wohl kaum an dem kürzlich zurückgelegten Weg liegen konnte.

„Verehrte Königin Yllaria", brachte er hervor.

Sie musterte ihn argwöhnisch und nun da er stand, konnte sie im dumpfen Kerzenschein nur noch eine Hälfte seines Gesichtes sehen. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch er hatte noch immer den Blick gesenkt. Diese Situation ließ immer mehr Missmut in ihr aufkeimen, aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen, also sprach sie: „Nun, wer seid Ihr und was wollt Ihr? Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten kann?"

Er sah sie direkt an und Verzweiflung blitzte aus seinen Augen. Sein Atem ging noch immer mühsam. Er breitete die Hände aus und sprach: „Ich bin... Jupp Rigger aus Arquata."

Arquata... sie hatte davon schon einmal gehört. Es befand sich wohl irgendwo im Süden und die Leute mussten schrecklich unhöflich sein. Plötzlich empfand sie Mitleid mit dem Mann.

„Sprecht weiter", befahl sie gelinde.

Diesmal antwortete Jupp Ringer sofort: „Königin. Ich bringe schlechte Nachricht. Euer König... er ist gefangen."

Für einen Moment zuckte sie zusammen, aber sie besann sich sofort wieder. Es gab schon zu viele Gelegenheiten, die ihr beibrachten, dass nicht jedem Wort zu trauen war.

„Warum sollte ich euch Glauben schenken", erwiderte sie geringschätzig.

Er schien von dieser Frage wenig überrascht zu sein: „Die Königin ist weise." Er fing an seinen rechten Oberschenkel abzutasten. Athelard legte intuitiv seinen Schwertarm auf sein Heft.

„Der König bat mich, euch dies hier auszuhändigen." Ein kleiner, abgenutzter, lederner Beutel kam in seiner Hand zum Vorschein. Der Fremdländer schien dennoch Manieren zu haben, immerhin war er nicht so dreist, die Stufen zu ihr hinaufzusteigen.

„Odinel."

Der klapprige Vicar löste sich aus seinem Versteck und nahm das bedeutsame Ding vorsichtig entgegen. Ebenso behutsam legte er es in die zarten, königlichen Hände.

Die Königin zog an den Bändern und der Inhalt offenbarte sich ihr. Ihre Augen wurden groß und ihr wurde eines klar: Mit diesem Gegenstand begann ihr neues Leben.

Die KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt