3. Sonnenaufgang

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Die Königin tat ihr Bestes, um die Nacht über ihre Augen zu bringen, doch ihr Geist wollte nicht schweigen. Die Leere des Platzes neben ihr breitete sich langsam in ihrer Gefühlswelt aus. Der Prinz wurde mittlerweile zurück in seine Räume gebracht. Die Katze war in die Dunkelheit verschwunden, das Feuer im Kamin erloschen, der Stein in ihrem Bett erkaltet. Nur der Mond leuchtete durch die kleinen, mittels Sprossen geteilten Fenster und spendete genug Helligkeit, um die Umrisse der Möblierung auszumachen. Die Gedanken im königlichen Kopf überschlugen sich förmlich. Alte, aktuelle und zukünftige Begebenheiten. Alle Szenarien, die sie durchdenken wollte, sollte, konnte - keines davon hatte eine positive Wirkung auf sie. Ihre Augenlider mochten sich einfach nicht schließen. Es war, als würden die Bilder in ihrem Kopf in der Dunkelheit zum Leben erwachen. Feinde massakrierten ihre Familienmitglieder. Eines nach dem anderen hauchte sein Leben aus, bis die Gegner schließlich am Fußende ihres Bettes standen und bedrohlich die Messer wetzten.

Sie schüttelte kurz ihren Kopf, um die bösen Fantasien zu vertreiben und richtete sich sogleich auf. Sie streute etwas Feuersalz in die Schale auf ihrem Beistelltisch, das sich nach dem Aufprall in kleine Flammen verwandelte, deren Flackern nun den Raum ein wenig erhellte. Sie strich sich den Schlafsand aus den Augen, erhob sich und wanderte leisen Schrittes mit dem Lichtgefäß in der Hand in Richtung Kamin. Doch anstatt den Kamin zu entzünden - wie ursprünglich geplant - blieb sie davor stehen und kniete sich zu Boden. Sie öffnete ihr Versteck und holte sich den Schlüssel von Calidow zurück. Irgendetwas daran ließ sie nicht los. Er kam ihr hundert mal wertvoller vor, als all die Erinnerungen, Geheimnisse oder Juwelen, die sich sonst in der Truhe befanden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der Stein bei ihr besser aufgehoben war, als in ihrer Schatzkiste, obgleich sie die einzige war, die von den Kostbarkeiten unter dem Fußboden wusste. Es war ein gut behütetes Geheimnis, das nur von Königin zu Königin weitergegeben wurde. So wie ihr es einst ihre Schwiegermutter gezeigt hatte, würde sie ebenso ihre Nachfolgerin einweihen. Es war ein Privileg für die Frauen in dieser Position, nur sie durften die Dinge, die sich sonst in ihren Herzen befanden, in einen kleinen Behälter verstauen. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, in dem sie in einem stillen Moment die Kostbarkeiten der Mutter ihres Ehemannes unter die Tücher auf ihre tote Brust legte. Aber sie wollte nicht, dass man den Schlüssel ebenso auf ihren leblosen Leib platzierte. Nein. Sie wollte ihn benutzen.

Sie nahm eine Schnur aus einem ihrer Schränke und band sie fest um den Beutel, der die Kostbarkeit beinhaltete. Sodann nahm sie eben diesen und legte ihn um ihren Hals. Das Band war gerade so lang, dass es genau auf Höhe ihres Herzen liegen blieb und somit von Unwissenden unter ihrer Kleidung unerkannt blieb. Jetzt musste sie nur noch hoffen, dass niemand anderes, der diesen Gegenstand gesehen hatte, dessen wichtige Bedeutung kannte. Natürlich kannten alle die Legende der Steine von Kalladrien, aber wer glaubte denn wirklich daran? Außer natürlich... ihr König - und nun auch sie selbst.

Plötzlich verspürte sie den Drang, das Zimmer zu verlassen. Sie musste sich einen sicheren Ausweg suchen, immerhin hatte sie jetzt keine Lust auf aufgescheuchte Diener oder Wächter, die sich aufspielen würden. Die Haupttüre kam somit nicht in Frage, auch der Durchgang zum Bad wäre kontraproduktiv. Also blieb nur noch der Fluchtweg durch das Zimmer, in dem sich ihre Zofen ein Bett teilten. Es war nicht das erste Mal, dass sie des nächtens ihr Nachtlager verließ. Vor allem in ihrer Zeit als frisch vermählte Frau suchte sie oft nach den Geheimnissen, die diese Burg wohl verbergen könnte. Sie kannte die Stellen genau, an welchen der Boden zu knarren begann, bei welchem Winkel die Tür zu quietschen anfing oder welche Ecken die besten Verstecke boten. Bei der Erinnerung an das Herzrasen, die dunklen Schemen, die Stille, ja sogar die Schelte, wenn man sie erwischte, musste sie lächeln - welch unbekümmerte Zeiten das nur waren. Aber sie musste zurück in das Jetzt, also stellte sie die Schüssel wieder zurück neben ihr Bett und zog sich die Pantoffel aus, nur ihre nackten Füße würden die Lautlosigkeit, die sie brauchte, garantieren. Sie öffnete die erste Tür gerade so weit, dass sie sich seitlich durchwinden konnte. Nun war sie dort angekommen, wo man ihre gesamte Kleidung aufbewahrte. Da hier keine Öffnungen waren, die das Mondlicht hinein lassen würden, war ihre Sicht schwer beeinträchtigt. Sie wählte ihre Schritte mit Bedacht, so wie sie sie in Erinnerung hatte. Es wären nur ein paar Klafter, die sie überwinden müsste. Sie kam gut voran, sobald die Dielen auch nur andeuteten zu krächzen, setzte sie ihren Fuß geschwind woanders hin und die Hände hielt sie gestreckt vor sich, um so das nächste Portal zu finden. Plötzlich durchdrang ein Stich ihr rechtes Knie. Sie presste Augen und Mund zusammen, um so die Kontrolle zu behalten. Einige Sekunden lang hielt sie das Gleichgewicht auf einem Fuß, bevor sie den anderen wieder sinngemäß benutzen konnte. Sie rieb sich die Stelle, um so den Schmerz zu vertreiben. Danach instrumentiert sie ihre Finger, um den Übeltäter zu finden, der ihren Plan beinahe durchkreuzt hätte. Sie fanden eine Ecke und nach nur wenigen Fingerbewegungen erkannte sie das kunstvoll gedrehte Metall, das auf die Holztruhe montiert war. Sie strich noch ein paar Zoll weiter und spürte wie sich die leichte Staubschicht regelrecht wie Puder auf ihren Finger legte. Sie positionierte sich mittig davor und öffnete sie vorsichtig. Auch wenn es dunkel war und sie nicht sehen konnte, was sich eigentlich darin befand, fasste ihre Hand tief hinein. Selten hatte ein solches Verlangen von ihr Besitz ergriffen, den Inhalt dieser Kiste zu erlangen - eigentlich war eher das Gegenteil der Fall. Ein sanfter Stoff umschmeichelte ihre Hände und sie zog ihn sogleich heraus. Am nächsten Morgen würde man zwar die Spuren und das Fehlen des Gegenstandes bemerken, doch ihre Dienerinnen würden es keineswegs wagen, ihr Fragen zu stellen. Sie tippelte dezent zurück in ihr Gemach, wo sie wieder von helleren Gefilden empfangen wurde. Sie hielt den schwarzen Lumpen vor sich und betrachtete ihn eindringlich. Vor vielen Jahren noch hatte er keine Löcher, die Farben waren satt und dunkel und er stank nicht nach Schwefel. Nichtsdestotrotz fing sie an, sich die Kleidung überzustreifen. An manchen Stellen zwickte ihre Montur, da sich ihre Figur trotz aller Bemühungen im Lauf der Jahre verändert hatte. Obwohl sich der Stoff zuvor sanft und weich anfühlte, kratzte er nun beinahe am gesamten Körper. Hätte sie nun ein Spiegelbild von sich gesehen, wäre sie wohl selbst in Gelächter ausgebrochen. Selbst im schwachen Licht der Feuersalze würde sie erbärmlich aussehen. Die langen Ärmel überdeckten selbst ihren Handrücken, aber die blutroten Schulterplatten lösten sich bereits aus ihren Nähten. Die silbernen Ketten die sich von jenen ausgehend mittig ineinander verflochten und auf der Höhe ihrer Taille wieder auseinandergingen, um an den Hüften ihr Ende zu finden, hatte einige unschöne braune Flecken und fielen teilweise sogar auseinander. Die vielen Bänder, die sich an ihren Beinen entlang schlängelten und einst dieselbe Farbe hatten, wie ihre Schultern, waren kaum noch zu sehen. Die dazugehörigen kniehohen Stiefel ließ sie, wo sie waren, denn in dieser Nacht hätte sie diese ohnehin nicht gebraucht. Der Halsschutz blieb offen, denn wenn sie ihn schloss, kam es ihr vor, als würde sie ersticken. Mit einem heftigen Ruck riss sie die Kapuze ab, die nur noch in Fetzen hing. Nun da sie ihre alte, eng anliegende Rüstung wieder trug, wusste sie auch ihr Ziel. Zunächst aber fehlte ihr ein allerletztes Objekt. Ihre ersten Bewegungen erfolgten eher schwerfällig aufgrund des unangenehmen Tragegefühls und dem an manchen Stellen hart gewordenen Leders. Abermals ging sie Richtung Kamin, aber diesmal blieb sie genau davor stehen. Sie ging in die Hocke und griff geradewegs an die Rückseite des Kamins, wobei die Hitze nicht so stark war wie angenommen. Das Schwelen der Feuersteine jedoch spürte sie langsam zu ihrem Unterarm vordringen. An der Stelle, die sie berührt hatte, erschien ein oranger Schleier und sie langte unverzüglich dahinter. Ihre Hand schnellte zurück und sie beäugte ihre Dolche. Im Gegensatz zu ihrem Gewand waren sie wie an dem Tag, an dem sie sie bekommen hatte. Die kunstvollen silbernen Griffe mit den rautenförmig angelegten Edelsteinen schienen unbenutzt. Das schneidende Metall war scharf wie eh und je. Sie strich über die flache Seite der Klingen, um dieses Gefühl, das ihr jahrelang verwehrt blieb, wieder erleben zu dürfen. Schließlich steckte sie sie in ihren angestammten Platz an ihren Hüften, wobei durch das fehlende Leder rechts die Spitze zum Vorschein kam.

Sie tat einen tiefen Atemzug und setzte sich in Bewegung. Diesmal kam sie ohne Probleme durch das Schrankzimmer, immerhin hatte sich in der Zwischenzeit nichts verändert. Im Zimmer der Zofen angekommen, wunderte sie sich über den angenehmen Geruch. Diese Ablenkung ließ sie nur kurz zu, denn auch hier war es ein Kinderspiel sich durchzuschleichen, immerhin wurde alles durch die Öffnung am oberen Ende der Wand in zartes Mondlicht getaucht. Als sie es wieder verließ, bildete sie sich ein, die Jüngste ihrer Zofen mit offenen Augen gesehen zu haben. Sie dachte kurz darüber nach, aber sie kam zu dem Schluss, dass es ihr einerlei war. Der wesentlich wärmere Steinboden, der sich nun unter ihren Füßen befand, war ihr ein bedeutend angenehmerer Untergrund. Sie huschte um ein paar Ecken und entlang von Mauern. Einerseits war sie froh darüber, dass sie die Wachen nicht bemerkten, andererseits machte es ihr Sorgen, ob es wirklich so einfach war, hier unbemerkt zu bleiben. Als sie nun vor ihrem geplanten Endpunkt zum Stehen kam, wurde sie von einer eigentümlichen Energie durchströmt. Sie trat ein und sog den Duft des Raumes ein. Sie konnte ich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal hier war, aber der Anblick hatte sich nicht verändert. Die drei großen Fenster am Ende des Raumes ließen genug Nachtlicht herein, um die Kandelaber nicht anzünden zu müssen. Die vier hohen Holzsäulen begrenzten den Kampfbereich und die beidseitigen Galerien waren menschenleer. An allen Ecken standen Übungsziele, Strohpuppen oder sonstige Geräte. Sie entschied sich für eines und zog ihre Dolche. Zuerst vollführte sie Drehungen, bestimmte Postionen und einfache Energieübungen, erst dann deutete sie an, wo sie ihre Feinde zugrunde richten würde. Sie wusste nicht, wie lange sie hier trainiert hatte, es mochten Minuten oder gar Stunden gewesen sein. Der Schweiß rann ihr an allen Stellen nach unten.

Sie hielt jäh inne, als sie die Stimme eines Mannes hörte: „Eure Hoheit, das Frühstück ist serviert."

Mit letzter Kraft warf sie ihre Dolche in beide Augen der Puppe. Sie blieb ungerührt stehen und atmete noch ein paar mal durch. Erst da bemerkte sie die Sonne in ihrem Rücken.

Die KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt