Die Königin fand sich vor der Tür zur Speisehalle wieder. Nachdem sich ihre verwunderten Zofen jede denkbare Mühe gegeben hatten, sie innerhalb kürzester Zeit wieder vorzeigbar zu machen, stand sie nun einem Gespräch mit Jupp Rigger gegenüber. Nach dieser schlaflosen und energieraubenden Nacht wusste sie nicht, wie sie die Kraft dafür aufbringen sollte. Ein Überbringer schlechter Nachrichten konnte keinerlei gute Botschaften mit sich bringen.
Die beiden Flügel der Tür schwangen auf und sie trat ein. Augenblicklich erhoben sich alle von ihren Stühlen, behielten dabei aber den Blick gesenkt. Ausgenommen von einem Mann, der sie beharrlich anstarrte. Erst nach einigen Augenblicken erkannte sie das Gesicht wieder. Das rabenschwarze Haar war gekämmt, der Bart gestutzt und die Wunde an der Stirn verschwunden. Nur seine Augen waren unverkennbar die Gleichen. Jupp Rigger hatte sich über Nacht in einen anderen Menschen verwandelt. Mit seiner neuen Kleidung wirkte er fast schon edel. Das weiße Leinen spannte unter seinem muskulösen Oberkörper, die hellbraune, lederne Weste, in der Mitte durch vereinzelte, schwarze Schnüre verbunden, war ihm jedoch zu groß.
Sie ließ sich auf ihrem angestammten Platz am Kopf der Tafel nieder und auch die restlichen Personen setzten sich wieder. Sie war froh, dass Rigger weit genug weg von ihr platziert worden war, doch dann fiel ihr Blick auf die beiden leeren Stühle zu ihrer Rechten und sie erinnerten sie an den Schmerz in ihrem Herzen. Sie wandte sich an ihren Berater, der links von ihr vor sich hin schmatzte: „Odinel, ich möchte, dass die übrigen Plätze des Königs und des Thronfolgers durch Prinzessin Amythia und Prinz Symond besetzt werden." Sofort hielt er inne und sah sie entgeistert an. Die Krümel, die sich in seinem Barthaar verfangen hatten, schienen ebenso verloren zu sein.
„Muss ich mich wiederholen", fragte sie bestimmt.
Noch mit vollem Mund schüttelte der Vicar den Kopf zuerst seitlich und dann nach oben und unten.
„Die nächste Mahlzeit verbringen sie bereits neben mir." Sie schenkte ihren Kindern über die Distanz hinweg ein schwaches Lächeln und bevor sie einen Schluck ihres Beerensafts nahm, konnte sie fast alle Augen auf ihr ruhen sehen. Sie hatte mit normaler Stimme gesprochen, was wohl auch Grund dafür war, dass die meisten Gespräche verstummt waren und die Aufmerksamkeit nun ihr galt. Als sie bewusst durch den Raum blickte, widmeten sich alle wie ertappt wieder ihrem Frühstück. Nur war da abermals der Mann, der sie standhaft musterte - diesmal lag Verwirrung in seinen Augen.
Ohne einen weiteren Gedanken an die Menschen zu verschwenden, die sie nun vielleicht für verrückt hielten, beschäftigte sie sich nun mit ihrem Teller, der in der Zwischenzeit befüllt worden war. Sie bemerkte die Regung in ihrer Magengegend und musste sich selbst gestehen, dass sie schon lange nicht mehr einen solchen Appetit hatte. Sie sog den Geruch durch ihre Nase. Der erste Bissen zerging regelrecht in ihrem Mund und sie musste sich zurückhalten, nicht gleich über den Rest herzufallen. Sie hätte nicht gedacht in der Lage zu sein, so viel zu essen. Sie musste sogar dem Diener um eine weitere kleine Portion schicken. Zweifellos bemerkte auch Odinel ihr seltsames Verhalten, aber er sprach sie nicht darauf an. Sie hatte ihn wohl für heute genug aus der Fassung gebracht. Der arme Mann musste sich in seinem Alter noch den Launen einer Frau ergeben. Sie bemühte sich über diesen Gedanken nicht zu lachen, um ihr übliches, ausdrucksloses Gesicht nicht zu gefährden.
Die Halle leerte sich immer mehr, mittlerweile waren beinahe alle Plätze an der Stirnseite verlassen und die Königin genoss diesen stillen Augenblick, in dem niemand sie belästigte. Es war das erste Mal seit dem Aufbruch des Königs, dass sie so empfand. Sie beäugte noch einige übrig gebliebene Edelleute, mit ein paar davon würde sie heute gewiss noch zu tun haben. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass auch Jupp Riggers Platz frei war. Sie fragte sich, wie lange er vor hatte zu bleiben. Die Anwesenheit dieses Mannes bereitete ihr zugegebenermaßen Unbehagen und vor allem auch sein Wissen. Was wusste er vom Schlüssel von Calidow? Wusste er mehr als sie? Kannte er die Legenden oder gar doch die Wahrheit? Andererseits... Gab es überhaupt jemanden, der mit Sicherheit sagen konnte, worum es sich handelte?

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Die Königin
FantasySeit Jahrhunderten umfängt die Legende der Steine von Kalladrien den Kontinent. Unter den vielen Geschichten, die man sich erzählt, weiß niemand mehr genau, welche Bedeutung sie eigentlich haben. Auch Königin Yllaria von Septorod ist mit dieser Sage...