Ernst und Anders

gesprenkelte Wendepunkte

Es gibt ja schon ziemlich viele verschiedene Arten jemanden anzusprechen, den man nicht kennt.
Man kann nach einer wichtigen Information fragen, oder einfach nur mal einen Spaß machen, man kann aus Höflichkeit grüßen, oder sich gezielt jemandem vorstellen.
Man kann andere Leute um etwas bitten, oder ihnen Komplimente machen, ihnen helfen, oder einfach nur nett sein.

Oder man macht es ganz anders.

Er hatte gerade aus Spaß einen gelb-violetten Hoodie angezogen und wollte diesen Nika zeigen, als es begann.

"Das sieht echt bescheuert aus."

Anders drehte sich zur Seite um und hörte für genau 4 Sekunden auf seinen Kaugummi zu kauen.
Neben ihm stand ein Typ, genauso groß wie er, nur helle Klamotten, und er guckte Anders zunächst nicht an, sondern weiterhin in den Spiegel.
In den Spiegel, vor den er vor einer Sekunde mit einem großen entschlossenen Schritt getreten war, um sich neben Anders zu stellen.
Und zeitgleich diesen Satz zu sagen.

Jetzt guckte der Typ ihn an, Anders jedoch in den Spiegel und zog die Augenbrauen zusammen.
"Memegesicht", nannte Nika das bei ihm. Wo war Nika eigentlich?
Egal.
Dieser Typ hatte Anders gerade beleidigt. Aber dabei hoffentlich die Klamotten gemeint und nicht ihn.
Und dieser Typ schaute gerade in den selben Spiegel wie Anders und sie schauten sich jetzt gegenseitig ins Gesicht. Durch den Spiegel.

Anders versuchte diesen Blick bei ihm zu entdecken, aber fand ihn nicht.
Neugier, Verwunderung, auch mal Bewunderung fand sich in den Blicken der Meisten, die Anders zum ersten Mal anschauten.
Anders hatte sich all diese Blicke gemerkt. Und einen davon suchte er jetzt bei dem hell-gekleideten, seltsamen Typ.

Aber da war keine Neugier, Verwunderung, Bewunderung, nichtmal dieses typische Abscannen. Oder Rassismus.
Nichts.

Nur ein leerer Blick, aber dadurch voll mit diesem merkwürdigen Ausdruck, den nur so jemand haben konnte, der sich plötzlich neben Leute stellte, ihnen was an den Kopf warf, und dann weiter stehenblieb, um einfach nur komisch zu sein.

Anders setzte jetzt noch die Kaputze von dem Hoodie auf.
"Nö."

Er war absolut stolz auf sich, gerade.
Der Typ lächelte etwas.

"Aber Gelb und Lila..."
"Na und?" Anders setzte die Kaputze wieder ab und strich sie gerade.
"Hm.. stimmt eigentlich. Man kann sich dran gewöhnen."
"Ja. Man kann sich an vieles gewöhnen." 'Aber nicht an alles.', doch das sagte Anders nicht laut.

Man gewöhnt sich nicht daran, im Spiegel immer wieder in ein Gesicht zu blicken, das sich vor lauter Undefiniertheit wie ein fremdes anfühlt.
Man gewöhnt sich nicht daran schief angeguckt zu werden, wenn man von der kleinen Schwester bei einem Haufen cooler Leute vorgestellt wird.
Und man gewöhnt sich auch nicht daran, Anders zu heissen.

"Special look, special name, special person."
Das hatte eine von Nikas Freundinnen mal gesagt, um Anders zu ermutigen.
Und fast hatte sich Anders besser gefühlt. Wenn der letzte Teil des Satzes auch wahr gewesen wäre.

Da der Typ keine Anstalten machte zu gehen, oder zumindest am Ende noch was Sinnvolles zu sagen, ging Anders einfach wortlos in die Umkleidekabine zurück.
Er zog seine eintönigen Sachen wieder an, hängte die Klamotten auf die Bügel, und blickte noch einmal lange in den Spiegel.

Er war nicht hässlich.
Er hatte keinen Grund, sich so zu fühlen.
Oder zu verhalten.
Er wollte einfach nur nicht dauerhaft dran denken, aber die Augen so vieler Leute erinnerten ihn ja ständig daran.

Er nahm alle Klamottenbügel in die Hand, drehte sich um und machte den Vorhang der Umkleidekabine auf.

Und da stand der Typ, immernoch, als wartete er jetzt gerade in der ersten Reihe auf ein Theaterstück.

Anders verengte die Augen zu Schlitzen, ignorierte ihn dann aber zunächst und hängte erstmal seine Sachen weg.

"Willst du denn nichts kaufen?", fragte er interessiert.
Mann. Was war denn nur los mit dem?!
"Nein.", lautete Anders' knappe Antwort.
"Weisst du was du dir kaufen könntest?", die Frage klang rethorischer und motivierender als in einer Mitmach-Kindersendung.
"Nein?", fragte Anders voll genervter Verzweiflung.

"Das!"
Der Typ hielt ihm ein hellblau-weisses Batikshirt vor die Nase, welches er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. 

Was Anders jetzt jedoch auffiel, war die Ähnlichkeit. Zwischen dem T-shirt und seinem Gesicht.
"Nee, oder?!"
Sein Gegenüber zog leicht erschrocken die Augenbrauen hoch.
"Doch, also..-"
Doch da nahm Anders ihm schon das T-shirt aus der Hand.

Er hielt es sich vor die Brust, und irgendwie... sah es gar nicht so schlecht aus.
Sein Denken machte eine Wende.
Oder beendete den Rückwärtsgang und fuhr zum ersten Mal vorwärts.
Oder es stieg ganz aus dem Auto.

Wie auch immer.

Hatte es nicht irgendwie was, wenn man seine Eigenarten, anstatt sie zu retuschieren, einfach mal bewusst betonte? 
Anders warf einen misstrauischen Blick auf den Typ, der immer noch neben ihm stand.

Aber dieses T-shirt...
Ja. Irgendwie schon.
Anders gefiel jetzt die Idee zu seinem Gesicht voller Pigmentstörungen ein ebenso wild-gebatiktes Oberteil anzuziehen.
Er guckte auf das Preisschild.

"Drei Euro.", murmelte er.
"Kaufst du es dir?"
Anders antwortete nicht sondern blickte sein Gegenüber weiterhin skeptisch an.
"Ich finde es passt zu dir.", redete dieser weiter.

"Wieso denn?", fragte Anders zielgerichtet. Aber dass der Typ das dann wirklich sagen würde...
"Naja. Es passt zu deinem Gesicht."
..damit hatte er nicht gerechnet.

"Ernsthaft??"
"Haha, ja ich bin sogar..-"
Anders beschloss anstatt auszurasten - einfach den Redeschwall seines Personal Shoppers durch eine Belohnung zu unterbrechen.
"-Naja, ich kaufs mir trotzdem."

Anders ging also direkt zur Kasse.
Selbst die Verkäuferin musste lächeln.
Sie hatte rote schulterlange Haare, dunkelgraue Sachen an, war höchstens zwei Jahre älter als Anders, und hübsch, aber nicht so sehr auffallend hübsch, sondern subtil hübsch.

Anders schaute sie beim Rausgehen nochmal an, ziemlich lange sogar, dann trat er endgültig vor die Tür und war erstmal ein bisschen froh.
Und wo war jetzt eigentlich Nika?
Neben ihm?
Anders schaute sich um, doch das war nicht Nika.

Oh Mann.
"Ist noch irgendwas?", fragte Anders den Typ der nun wieder links neben ihm stand.

"Kennst du noch mehr Second-hand Läden hier?", fragte dieser.
Achso. Er wollte Anders einfach nur nach Tipps fragen. Was sollte das denn dann vorher?
"Eh.. ja?", sagte Anders zögerlich.
Hauptsache der kam nicht mit, also setze er schnell noch hinzu:
"Ich hab heute schon fast alle hier abgeklappert."
"Achso, okay. Kannst du mir vielleicht noch welche zeigen?"

"Ja, aber du kannst bestimmt auch welche mit Google Maps finden."
"Ach.. die Technik."
Der konnte sich also mit Nika zusammentun. Wo auch immer sie nun wohl gerade war.