Der Brief

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Vince p.o.v

Ich komme gerade nach Hause, nach nur fünf Stunden, da zu meinem Glück eine Stunde entfallen ist, als ich einen Brief im Briefkasten sehe. 

Das besondere? Er ist an MICH adressiert. Ich bekomme nie Post. 

Aufgeregt laufe ich Richtung Briefkasten und ziehe den Brief hervor. 

Kein Absender. Ich zucke mit den Schultern und nehme ihn mit nach drinnen. Er fühlt sich dicker an als normale Briefe, so als wäre es weit mehr als nur eine Seite.

 Ich schließe die Haustüre und gehe in mein Zimmer. Es ist niemand Zuhause und deshalb stört es auch niemanden, dass ich nichts gegessen habe oder meine Schuhe noch an habe, als ich mich auf mein Bett werfe. Meine Neugier drängt mich dazu den Brief zu öffnen, sobald meine Zimmertür ins Schloss gefallen ist.

Wie erwartet fallen mir mehrere Seiten entgegen, die mit einer kleinen, ordentlichen Schrift bedeckt sind. 

Jo's Schrift wie mir bald klar wird als ich den Text genauer betrachte. Ich lache in mich hinein, so was dummes ein Brief. Und das zu Zeiten von Smartphones.

Doch das Lachen gefriert mir schon bald auf den Lippen als ich anfange zu lesen.

~

Hallo Vince,
Hier ist Jo. Ich weiß nicht wie ich diesen Brief anfangen soll, oder wie man sowas eigentlich schreibt.
Du musst wissen, dass es mir schon seit einiger Zeit schlecht geht. Wirklich schlecht. Nicht körperlich oder so, psychisch. Wie es dazu kam? Lies selbst.

Mit gemischten Gefühlen starre ich auf die Zeilen vor mir und versuche zu verstehen. 

Warum hatte er mir nie etwas erzählt? Wir sind doch Freunde, oder?

 Jo war immer so lebensfreudig, er hat viel gelacht und war für jeden Spaß zu haben. Gerade ihm sollte es so schlecht gehen? Ich schüttele den Kopf, nein das war bestimmt alles nur ein schlechter Witz. Mein Blick wanderte wieder auf das Papier.

Du denkst das ist ein Witz? Nein das ist es nicht. Ich habe es dir nie gesagt weil ich einfach wollte, dass du glücklich bist. 

Warum ich es dir jetzt sage? Dazu kommen wir später.

Ich runzele die Stirn. Ich habe Angst davor was ich in diesem Brief finden oder erfahren könnte. Es hört sich nicht so an als gäbe es ein happy end. Die Sorge um Jo lässt mich schnell weiterlesen.

Als erstes möchte ich dir sagen, dass du damit  eigentlich nichts zu tun hast. Du warst für mich immer eine Stütze in dieser verdammten Scheiße. Dafür möchte ich dir danken.

Panik steigt in mir auf, warum hört sich das verdammt nochmal so sehr nach einem Abschiedsbrief an?

Mein Leben läuft schon lange nicht mehr gut. Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen, dass du es nie gemerkt hast , ich bin froh darüber.
Alles begann vor ca. einem Jahr.
Am Anfang waren es nur kleine Phasen in denen ich einfach traurig war. 

Ich dachte: das geht vorbei. Ich dachte: halb so schlimm.

Aber es ging nicht vorbei. Es wurde immer schlimmer. 

Ich schlief nachts nicht mehr und wenn doch dann wachte ich mit einem voll geheulten Kissen auf . Du fragst dich was der Auslöser war.

In der Tat.

Es geschah eines Nachts, ich lief alleine nach Hause, es war spät, es war dunkel. Wir hatten lange gefeiert und ich war müde.
Die enge, abgeschiedene Gasse, die ich als Abkürzung nahm sollte mein Leben für immer verändern.
Zuerst habe ich ihn gar nicht gehört, erst als sich seine Hand auf meinen Mund legte um meine Schreie zu dämpfen bemerkte ich ihn, da war es schon längst zu spät.
Vince, in dieser Nacht wurden mir schreckliche Dinge angetan, Dinge, die ich nie wieder vergessen werde.
Er hat mich angefasst, überall, geschlagen, vergewaltigt.

Tränen laufen über mein Gesicht, Tränen der Fassungslosigkeit, der Trauer.

Es blieb nicht bei dem einen Mal. Er kam immer und immer wieder. Warum ich mir keine Hilfe geholt habe?
Schon in der ersten Nacht erklärte er mir, dass er, wenn ich auch nur ein sterbenswörtchen darüber verlor,  dir genau das selbe antun würde.

Ich starre auf das Papier und kann nicht glauben was ich da lese. Die Schuld droht mich zu erdrücken. Nur wegen mir musste er so leiden. Meine Hände beginnen unkontrolliert zu zittern. "Oh Gott, es tut mir so leid Jo",flüstere ich verzweifelt, während immer mehr Tränen auf das Blatt tropfen.

Dich trifft keine Schuld, klar wollte ich dich beschützen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl ich hätte es verdient so leiden zu müssen.
Ich weiß nicht ob du das verstehst.
Irgendwann war ich einfach gebrochen und mir war alles egal.
Immer wenn er mich berührte und in mich eindrang war ich zwar körperlich anwesend, aber geistig ganz woanders.
Willst du wissen wo?

Ja verdammt.

Bei dir. Dein Lachen, dein Anblick vor meinem geistigen Auge, all das hat mich am Leben gehalten.
Ich habe mir ausgemalt wie wir zusammen Videospiele spielen, oder einfach nur über bescheuerte Witze lachen, während er stöhnend in mir kam.
Manchmal zerbrechen Menschen einfach innerlich.

Wenn du eine große Wunde hast und nur ein kleines Plaster, dass die Blutung wenigstens ein bisschen stillt, nimmst du es gerne.
Du bist mein Pflaster. Du konntest meine Seele zwar nicht reparieren, aber du konntest den Schmerz lindern.

Jetzt schluchze ich laut auf. Ich sollte den Schmerz lindern? Dabei war ich doch der Grund dafür, dass er sich nicht wehren konnte.

Du hast mein Leben erträglicher gemacht und dafür möchte ich dir danken.
Wenn ich bei dir war konnte ich das alles einfach kurzzeitig vergessen.

Auch das größte und beste Pflaster geht irgendwann kaputt.
Es ist nicht so, dass ich dich weniger mochte oder so, der Schmerz wurde einfach zu groß, der Hass auf mich selbst. 

Ich kam mir schäbig vor wenn ich mit dir zusammen war. Nicht weil du mir das Gefühl vermittelt hast, sondern einfach weil ich, ich war.

Dieser Typ, der sich Nacht für Nacht missbrauchen lies. Ich fühlte mich dreckig und benutzt.
Es wurde immer schlimmer und irgendwann bricht jeder Damm.

Meiner ist gebrochen.

Engelsjunge Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt