~Kapitel 4, in dem ich Gott höchstpersönlich kennenlerne~

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Lolas Bruder entpuppte sich als die attraktivste Person, der ich jemals begegnet war. Er hatte schwarze Haare, war gut gebräunt und ein leichter Dreitagebart zierte seine markante Kinn- und Kieferpartie. Erst nach einigen peinlichen Sekunden, in denen ich das Kunstwerk mir gegenüber angestarrt hatte, fiel mir auf, dass Lola mit mir sprach, und dass hinter ihm eine Menge anderer Leute standen, die mich alle sprachlos musterten. Ich räusperte mich, wandte meinen Blick schweren Mutes zu Lola und unterbrach sie: "Wie bitte, was?"

Sie runzelte die Stirn, begann aber einfach nocheinmal mir zu erklären, dass das ihr Bruder war, der Ramon hieß und ich gerne in einem Gästezimmer schlafen konnte für die Nacht heute. Ich stutzte kurz und versuchte Worte zu finden, die mich nicht blamieren würden.

"Das wäre echt perfekt, wenn das ok ist!", ich wandte mich an Ramon, der mich mit dunkeln Augen musterte und seiner Schwester so ähnlich sah, dass es erschreckend war.

"Ok, sei unser Gast, Claire", meinte er mit Gänsehaut erregender Stimme, die mir durch alle Zellen fuhr und mich dazu anregte, mehr zu wollen. Mit einer kurzen Handbewegung hinter sich wollte er wohl das Dutzend Dorfbewohner wegschicken, die mich immer noch beäugten, als wäre ich eine ausgestorbene Art. Nachdem sie sich nach mehreren Sekunden immer noch nicht bewegt hatten, drehte er sich um und machte ihnen deutlich, dass sie gehen sollten. Widerwillig, entfernten sie sich und ich fragte mich, wer diese Leute waren und wer Ramon war, ihnen Befehle dieser Art zu erteilen. Dieses Verhalten hatte ich bisher nur bei den Wolfsrudeln erkennen können, auf die ich getroffen bin.

"Fühl dich wie zuhause", meinte er und ging  an mir vorbei ins Haus. Ich sah mich verwirrt nach ihm um und musste feststellen, dass auch Lola fort war.
Mir fiel auf, dass das kleine Dorf, das nicht mehr als zweihundert Einwohner haben konnte, komisch aufgebaut war. Es waren nur zwei Häuserreihen, die den großen Feuerplatz umrahmten, mit dem, vor dem ich stand und in welchem ich die heutige Nacht verbringen würde, als eine Art Hauptgebäude, da es als einziges größer als der Durchschnitt war und ein seltsames Wappen an der Hausfront hatte, welches eine Sichel und fremdartig geformte Blüten beinhaltete.

"Hast du Hunger?", wurde ich von meinen Gedanken unterbrochen und wandte mich schnell um, sodass meine Haare nach hinten flogen. Ramon, der nun noch näher stand als vorhin, starrte auf meine Schläfe und ein Ausdruck des Entsetzen lag auf seinen Zügen. "Was in drei Teufelsnamen...", murmelte er und ließ seine Augen zwischen meinen und meiner linken Schläfe, an der mein Muttermal in Form einer Sichel war, umherschnellen. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, dass mich Menschen wegen ihr anstarrten, zu lange war ich aus dem Kinderheim fort. Schnell ließ ich meine Haare darüber fallen und räusperte mich.

"Ja, was zu Essen wäre toll", meinte ich und versuchte die peinliche Situation zu überspielen.

Lonely WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt