~Kapitel 6, in dem ich ihn das erste Mal sehe~

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Claire^ (stellt sie euch mit einem sichelförmigen Muttermal an der linken Schläfe vor)

Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster und kitzelten mich wach. Verwirrt richtete ich mich auf. Wo war ich hier?, wunderte ich mich, als mir wieder klar wurde, dass ich in Ramons Haus war. Ramon. Schöner Name. Schöner Mann. Schnaubend schüttelte ich meinen Kopf. Was faselte ich denn da? Normalerweise war ich kein Mädchen, das sich sonderlich für Jungs interessierte. Das kam wahrscheinlich davon, dass so ziemlich alle Jungen in meinem Alter an meiner alten Schule nichts mit mir zu tun haben wollten. Ich war immer das 'Waisenkind mit dem komischen Muttermal und den schneeweißen Haaren'.
Meine einzige Freundin -wenn man es so nennen konnte- war Pia, meine Mitbewohnerin im Heim. Ich verstand mich gut mit ihr. Sie stellte keine dummen Fragen und starrte nicht. Doch wie der Zufall so wollte, wurde das einzig nette Mädchen von ihrem Onkel, von dem sie nicht wusste, dass er überhaupt existierte, adoptiert. Naja, dann war ich wieder alleine, aber nicht mehr lang bis ich abgehauen bin. Ich fragte mich oft, ob sie nach mir gesucht hatten, wobei ich mir ziemlich sicher war, dass sie nach 2 Wochen aufgegeben hatten. Dass Kinder aus dem Heim abhauten, war nichts ungewöhnliches. Sollte auch keinen wundern, der dieses Haus schon mal betreten hatte. Zum Glück hatte ich diese Institution hinter mir. Ich war alleine sowieso viel besser dran.

Nachdem ich mich angezogen hatte, eine khakifarbene Hose mit schwarzem Oberteil, packte ich meine restlichen Sachen zusammen und machte mich auf den Weg nach unten, um zu sehen, ob schon jemand wach war. Als ich aus dem Fenster an der Treppe schaute, stockte mir der Atem. War das ein Wolf? Soweit ich wusste lebten hier in der Gegend weder normale Wölfe noch Werwolfrudel. Oder doch? Ich schwörte hinter einem Baum einen Wolf gesehen zu haben, doch als ich noch mal genauer hinschaute, war niemand weit und breit zu sehen, nur ein schneeweißer Wald. Halluzinierte ich jetzt?
Verwundert setzte ich meinen Weg die Treppe runter fort, jedoch war anscheinend noch niemand wach, also entschied ich mich, einen kurzen Spaziergang zu machen. Ich stellte sicher, dass ich weit genug vom Dorf entfernt war, zog mich aus -ich wollte meine Kleidung doch nicht zerstören- und verwandelte mich dann.
Langsam sollte ich mich wieder auf den Weg zurück machen, doch es war so befreiend einfach zu rennen, mit dem Wind im Gesicht und dem knirschenden Schnee unter den Pfoten.
In einer neuen Gegend zu rennen fühlte sich immer an wie das erste Mal. Ich fand heraus, was ich war, nachdem ich gerade 16 geworden bin. Die Rudel, bei denen ich blieb, meinten es sei normal, dass man sich ungefähr in diesem Alter das erste Mal verwandelte. Bei manchen jedoch früher oder später als bei anderen. Das war bei Jungen und Mädchen gleich. Sie erzählten mir auch, dass es am Anfang nicht wirklich auf freiwilliger Basis passierte, sondern ein so starker Drang danach bestand und man es irgendwann unbewusst machte. Ab diesem Zeitpunkt an konnte man es selber kontrollieren.
An meine erste Verwandlung erinnerte ich mich noch ganz genau. Ich war auf dem Heimweg von der Schule, und da ich mich schon mein ganzes Leben lang zu Wäldern hingezogen fühlte, legte ich oft Umwege durch den nahegelegenen Wald ein. Glücklicherweise, erfuhr die Verwandlung an einem solchen Nachmittag. Ich könnte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn ich mich im Heim oder sogar in der Schule in einen Wolf verwandelt hätte.

Irgendwann schaffte ich es doch, mich aus meinen Tagträumen zu reißen und zum Dorf zurück zu kehren. Ich war schon fast wieder an der Stelle, wo ich meine Klamotten liegen gelassen hatte, als ich hinter mir ein leisen Knurren hörte. Langsam drehte ich mich um. Ein Wolf. Kein normaler Wolf. Ein Werwolf. Noch nie hatte ich einen so schönen, aber doch furchteinflößenden Wolf gesehen. Er war riesengroß mit glänzendem schwarzen Fell, das die stechenden grünen Augen nur noch mehr betonte. Er fletschte seine Zähne. Komischerweise fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Ich wollte ihm nah sein. Zögerlich tapste ich auf zitternden Pfoten einen Schritt näher. Seine Zähne immer noch gefletscht, tat er es mir gleich und kam ebenso auf mich zu. Ich selber starrte ihn durch meine eisblauen Augen an. Er wollte mir Angst machen, jedoch hatte ich keine. Dummes Mädchen. Wärst du schlau, hättest du Angst und würdest wegrennen.
Wir waren nur noch eine Armlänge voneinander entfernt und erst jetzt stieg mir sein Geruch in die Nase. Er roch gut. Vor allem roch er vertraut. Ich überlegte, woher ich diesen Geruch kenne, dann dämmerte es mir. Ramon. Als wäre ich aus einer Trance erwacht, zog ich meinen Kopf zurück und rannte in die andere Richtung.
Ich weiß nicht, wieso ich rannte. Ich war doch schon zuvor auf Rudel gestoßen. Aber dieses hier war anders, ich spürte es. An meiner Kleidung angekommen, schnappte ich sie mir und zog mich schnell an. Nicht wissend, wohin ich sonst sollte, ging ich zurück ins Dorf. Ich musste rausfinden, ob sie etwas über meine Familie wussten.

Lonely WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt