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Es begann in der dritten Stunde, als ich gerade Englisch hatte.
Ich hörte meiner Lehrerin nur mit einem Ohr zu. Gelangweilt schaute ich abwechselnd auf die tickende Uhr an der Wand und aus dem Fenster.
Wenn Alexandros in meiner Klasse gewesen wäre, hätte mir der Unterricht vielleicht ein bisschen mehr Spaß gemacht, aber er war ein Jahrgang über mir.
Nachdenklich betrachtete ich die gegenüberliegende Wand. Bevor ich überhaupt realisierte, was ich da tat, spürte ich das mir inzwischen vertraute Summen in meinem Kopf. Die Wand wirkte auf einmal anders - sie flimmerte vor meinen Augen und wurde durchsichtig. Ich beobachtete die Szene, die sich in dem Raum hinter der Wand abspielte. Alexandros stand an der Tafel und wirkte nicht so, als hätte er etwas von dem begriffen, was ihm sein Lehrer gerade zu erklären versuchte.

Ich war so mit meiner Fähigkeit beschäftigt, dass ich das Beben erst nach einer ganzen Weile bemerkte. Es begann mit einem leichten Vibrieren im Boden, kaum spürbar. Dann zitterten die Stifte auf meinem Tisch. Die Fensterscheiben klirrten. Unsere Lehrerin brach mitten im Satz verdutzt ab. Meine Mitschüler tauschten verwirrte Blicke.
Dann ging alles ganz schnell.
Der Direktor stürzte zur Tür hinein. Er gab ein paar hektische Anweisungen, die in dem allgemeinen Gemurmel untergingen.
Ich verstand nur drei Worte, aber die genügten mir: Erdbeben. Evakuierung. Lauft!

Ich wusste nicht wirklich, was ich mir unter dem Begriff "Erdbeben" vorgestellt hatte. Ich hatte noch nie eins erlebt. Von einer Sekunde auf die andere geriet die Welt aus den Fugen. Die Häuser um mich herum begannen zu schwanken. Es regnete Steine vom Himmel. Autos wurden von der Straße geworfen. Bäume und Laternenmasten knickten um wie Streichhölzer.
Ich stand wie erstarrt vor der Schule und konnte nicht fassen, was ich sah.
Dann hörte ich Schreie hinter mir. Die Mauern des Gymnasiums, über dessen Eingang noch immer das Schild "Anno 1875" hing, bekamen Risse und fielen in sich zusammen. Eine riesige Staubwolke legte sich über den Schutt und nahm mir die Sicht.
Ich zwang meine Füße, sich in Bewegung zu setzen und lief los. Ich kämpfte mich durch die Trümmer und stolperte auf die Straße, wobei mich die Druckwellen fast umwarfen.
Ich sah mich um und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Was sollte ich jetzt tun? Dunkel erinnerte ich mich an die Katastrophenschutzübungen in der sechsten Klasse: Wie verhalte ich mich bei einem Erdbeben?
Ich wusste nicht mehr, was sie uns damals erzählt hatten, aber dieses Wissen würde mir jetzt sowieso nicht weiterhelfen.
Stattdessen lief ich einfach weiter, mit dem hoffnungslosen Plan, es nach Hause zu schaffen.

World of Mystic Special - Léandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt