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Ich kann nicht genau sagen, was danach passierte. Die Ereignisse verschwimmen in meiner Erinnerung und nur einzelne Details stechen hervor.
Die Schreie der Menschen, wenn Häuser über ihnen einstürzten.
Weinende Mütter, die ihre Kinder an sich drückten.
Gebäude, die zusammenklappten wie Kartenhäuser.
Überall entsetzte und angsterfüllte Gesichter.
Ich weiß nicht wie, aber ich schaffte es tatsächlich. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich das Haus, in dem ich lebte. Zumindest das, was davon übrig geblieben war.

Fast wäre ich daran vorbeigelaufen. Das war nur ein weiterer Schutthaufen, einer von tausenden. Aber es war unverkennbar der Ort, an dem das heruntergekommene Mietshaus stehen müsste. Nur stand es jetzt dort nicht mehr.
Stattdessen waren da nur rauchende Trümmer. Wie in Trance schritt ich darauf zu.
Hundert spitze Nadeln bohrten sich in mein Herz, als ich realisierte, was da vor mir lag.
Dann die nächste Erkenntnis: Meine Eltern. Nikolas. Sie waren da drin.
Das konnte nicht sein.
Mit einem Aufschrei stürzte ich mich auf die Trümmer. Verzweifelt rief ich ihre Namen. Vielleicht lebten sie noch. Vielleicht waren sie rechtzeitig rausgekommen.
Meine letzte Hoffnung versiegte, als ich einen eingestürzten Balken beiseite schob und meinen Vater fand. Ich wusste sofort, dass er tot war. Seine Augen waren offen und starrten ins Leere. Sein Gesicht hatte den für ihn typischen nachdenklichen Ausdruck angenommen, als würde er an Dutzende Dinge gleichzeitig denken.
Mit zitternden Fingern berührte ich seine Stirn und zuckte zusammen, als ich merkte, wie kalt seine Haut war.
Meine Mutter lag gleich neben ihm. Ihre Augen waren geschlossen und es sah fast so aus, als würde sie nur schlafen. Aber das war ein Schlaf, aus dem sie nie mehr erwachen würde.

Mühsam richtete ich mich auf und taumelte zurück. Ich hatte jetzt kein Ziel mehr, es gab keinen Ort, zu dem ich mich noch flüchten konnte. Ich hatte kein Zuhause mehr.
Trotzdem lief ich erneut los, in eine unbestimmte Richtung. Ich kam fünf Schritte weit, als ich stolperte und stürzte. Ich wollte liegen bleiben und auf den Tod warten, in diesem Moment sah ich keine andere Möglichkeit.
Es dauerte etwa zehn Sekunden, bis ich begriff, was mich da zu Fall gebracht hatte.
Sein Körper war so klein, dass ich ihn übersehen hatte. Seine Augen - blau wie die seines Vaters, aber sie hatten ihren Glanz verloren. Auf seiner Brust war ein roter Fleck, dort wo sein Herz lag.
Ein heißer Schmerz breitete sich in mir aus. Ich umfasste seine Schultern und schüttelte ihn. Erst vorsichtig, dann immer heftiger. Nach all dem, was ich heute erlebt hatte, durfte er einfach nicht tot sein. Ich hatte schon meine Eltern verloren. Jetzt nicht noch ihn, nicht er.
Ich schluchzte verzweifelt, ich flehte ihn an, aufzuwachen, ich gab ihm sogar eine Ohrfeige. Aber er blieb tot.

Ich war gebrochen, so gefangen in meinem Schmerz und meiner Trauer, dass ich die Hand auf meiner Schulter erst gar nicht bemerkte. Nach einer Weile drehte ich mich um und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Ich wusste nicht, wer er war und es war mir auch egal.
"Lass mich in Ruhe", murmelte ich und war überrascht, dass ich überhaupt einen Ton hervorbringen konnte.
"Ich bin Tulio", sagte er ruhig. "Ich kann dich hier rausholen."
"Lass mich in Ruhe", wiederholte ich und wurde erneut von einem Schluchzer geschüttelt.
Er ging nicht darauf ein, er schien überhaupt nicht zu bemerken, dass ich neben meinem toten Bruder saß und dass die Erde noch immer bebte.
Aber wenn er nicht verschwinden wollte, dann musste ich eben gehen. Ich schaffte es, aufzustehen und ignorierte die Hand, die er mir entgegenstreckte.
Langsam schleppte ich mich zur Straße und suchte nach einem guten Ort zum Sterben, als ich ihn sah.
Er stand etwa zwanzig Meter von mir entfernt und musterte mich. Es war derselbe Blick mit dem er mich heute Morgen angesehen hatte, aber inzwischen waren Jahre vergangen. Ihn so vor mir zu sehen, verwirrte mich dermaßen, dass ich schwankte und hingefallen wäre, hätte Tulio mich nicht aufgefangen.
Meine Stimme brach, als ich seinen Namen rief.
"Alexandros!"
Er reagierte nicht. Kein Anzeichen dafür, dass er mich überhaupt gehört hatte.
"Wir müssen los", drängte Tulio.
"Alexandros!"
Er stand einfach nur da und starrte mich an, sogar die Andeutung eines Lächelns konnte ich auf seinem Gesicht erkennen.
Für eine Sekunde schien die Welt den Atem anzuhalten.
Dann stürzte das Haus hinter ihm zusammen und begrub ihn in den Ruinen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 27, 2017 ⏰

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World of Mystic Special - Léandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt