Ich spürte es noch im selben Moment, als sie die Augen aufschlug, dass ihre Verwandlung abgeschlossen war. Sie war jetzt eine von uns. Ich dachte an den Kuss, über den ich ihr das Gift zugeführt hatte. Nachdem sie auf der Bühne zusammengebrochen war, ihre Augen seltsam verdreht und Blut auswürgend, hatte der Notarzt ziemlich schnell ihren Tod diagnostiziert. Ihren Eltern wurde die traurige Nachricht am nächsten Morgen überbracht und ihr Leichnahm kurz nach der Obduktion zur Beerdigung freigegeben. Todesursache: Vergiftung. Ursache: unklar. Nach einem möglichen Täter, der ihr etwas in den Drink getan haben könnte, wurde gefahndet. Der Arbeitskollege hatte der Polizei eine recht detaillierte Beschreibung von mir gegeben.
Ich war bei ihrer Beerdigung gewesen, ohne mich zu zeigen. Als unsichtbarer, stiller Beobachter hatte ich zuschauen können, wie ihre Eltern nach der Trauerfeier an ihrem Grab geweint und es mit bunten Blumen bepflanzt hatten. Kommilitonen waren erschienen und hatten Abschiedsworte formuliert, wobei sie häufig auf schön klingende, literarische Zitate zurückgegriffen hatten. Selbst ihr Chef, der nun wirklich ein abartiges Schwein war, hatte ihr Rosen auf das Grab gelegt.
Ich hatte fast schon gehen wollen, als noch ein letzter, einsamer Besucher aufgetaucht war. Ihr Arbeitskollege. Er hatte geweint und dieses seltsame Mitgefühl war erneut in mir wach geworden. Ich hatte diesem Mädchen ihr Leben geraubt und ein Blick in den Brief, den der Junge an ihrem Grab hinterlassen hatte, hatte genügt, um mir zu zeigen, dass ich auch eine Romanze zerstört hatte, die zwar noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte, aber garantiert etwas Überdauerndes geworden wäre.
Ich saß in einem Café und blätterte in der Tageszeitung, die auch ihre Todesanzeige enthielt. Es war ein ganz normaler Arbeitstag und solange sie nicht nach mir suchte, war sie auch noch nicht bereit, von mir in ihr neues Dasein eingeführt zu werden. Und solange würde ich sie auch in Ruhe lassen und schlicht meinem normalen Alltag nachgehen. Der Moment, in dem sie auftauchte, würde noch früh genug kommen. Aber noch nicht jetzt.
Ich beobachtete über den Rand der Zeitung hinweg einen Mann, der in einer Ecke in dem Café saß. Seine Aura war triefend schwarz und es kribbelte mir in den Fingerspitzen, ihm seine dunkle, kalte Seele herauszureißen. Schamlos gaffte er die Bedienungen an, pflaumte Mitmenschen grundlos an und zerschmetterte seine leere Kaffeetasse auf dem Boden, als er wegen seines unhöflichen Verhaltens zum Gehen aufgefordert wurde. Er hatte blonde, ölige Haare, ein markantes, aber unfreundliches Gesicht. Er war sportlich gebaut, trug einen lässigen Anzug ohne Krawatte und strahlte Arroganz und Macht aus. ER war unsympathisch, aber vermutlich flogen naive Frauen geradezu auf ihn.
Endlich erhob er sich, knöpfte sein Sacko zu und steuerte auf die Tür zu, verließ das Café allerdings nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und laut und deutlich zu sagen, so dass jeder es hören konnte, dass er diesen Laden nicht empfehlen würde, weil die Hygienebedingungen in der Küche das Allerletzte seien.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und ich erhob mich ebenfalls. Ich liebte das prickelnde Gefühl von Adrenalin, wenn ich einen Auftrag ausführte.
Der Mann bog draußen in eine schmale Gasse ein, die als Abkürzung zwischen Innenstadt und Bahnhof diente und kickte die Blechdose eines Obdachlosen beiseite, der zwischen Müllcontainern auf dem Boden hockte und um Almosen bat.
Dann holte er ein Handy aus einer seiner Taschen hervor, wählte und hob es ans Ohr.
"Geben Sie ihr die Kugel. Sie weiß zu viel.", sagte er und legte auf.
"Sind sie immer so ein Arschloch?", fragte ich und trat in Erscheinung. Der Blick des Mannes verengte sich als er mich sah und seine Hand wanderte unter sein Sacko. Wir waren an einer Stelle der Gasse angekommen, die uneinsehbar und menschenleer war. Er hatte freie Bahn. Und er nutzte sie. Innerhalb von Sekunden holte er eine Pistole mit Schalldämpfer hervor und schoss. Ich trat aus meiner Erscheinung heraus und die Kugel segelte durchs Nichts. Direkt neben ihm trat ich wieder hervor und griff nach seiner Kehle. Für ihn war es nun zu spät. Er würde seine Seele verlieren, weil sie hässlich war, und das wiederum bedeutete seinen Tod. Aber er würde neugeboren werden mit einer reinen Seele, die ihm eine zweite Chance geben und somit den Weg für ein besseres Leben ebnen würde. Das war mein Job. Ich war Hüter des Aequilibriums, des Gleichgewichts zwischen gut und böse. Ich bekämpfte dunkle Seelen und schenkte ihnen Reinheit. Doch eine dritte Chance gab es nicht. Für niemanden.
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Exposed
Teen Fiction"Es würde viel weniger Böses auf Erden geben, wenn das Böse niemals im Namen des Guten getan werden könnte." (Marie von Ebner-Eschenbach) Der Kampf um die Seelen der Menschheit ist ein ewig andauernder, der niemals ein Ende finden wird. Und doch mus...