Kapitel 19

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Es klopft leise an der schweren Zimmertür. Ich throne auf dem Kissenberg in meinem Bett, das so gar nichts mit der schmalen Matratze in den Trakten gemein hat und fühle mich mal wieder schlecht. Langsam mutiere ich zu einer unausstehlichen Person, die sich ständig nur selbst bemitleidet und nur darüber grübelt was für Schlechtigkeiten geschehen. Es wird Zeit, dass ich dem ein Ende bereite.

„Ja?", antworte ich mit fester Stimme, da wird auch schon die Tür aufgestoßen. An dem zierlichen Mädchen mit dunklem Haar drängt sie eine große Blondine vorbei, die auf mich zu stürmt. Ehe ich mich versehe wirft sie sich um meinen Hals und setzt sich dann auf die Bettkante. Über die Schulter gewandt meint sie: „Stell dich nicht so an, siehst du alles ist prima, sie hat nicht einmal abgenommen!" Von den Akten weiß ich, dass die an der Tür Neeve ist. Die andere muss Reanne sein.

„Hi", meint Neeve und lächelt mich schüchtern an, dann fährt sie ernsthaft fort: „Deine Mum hat gesagt, naja, dass du eine retrograde Amnesie hast. Ich hab es geclifft und einige Artikel dazu gelesen. Du sollst wissen, dass wir verstehen wenn du dich nicht erinnern kannst. Du kannst ganz ehrlich sagen wie du dich fühlst, weil - auch wenn du es gerade nicht weißt - aber, wir sind deine besten Freundinnen und wir haben dich lieb und stehen das gemeinsam durch."

Kurz ziehe ich eine Augenbraue skeptisch hoch, dann habe ich meine Miene wieder im Griff, ich lächle verlegen: „Danke dir, Neeve oder?"

Sie sieht mich verzagt an und von ihrem vorigen Enthusiasmus scheint nicht mehr so viel übrig zu sein, ihr Blick wandert ein wenig hilfesuchend zu Reanne.

Innerlich seufze ich still auf. Das ganze wird komplizierter als ich gerechnet hatte. Wenn ich mir allerdings vorstelle, wie schwer es für mich gewesen wäre wenn Ruven eines Tages plötzlich keinerlei Erinnerungen an mich gehabt hätte, kann ich mich in Neeve hinein fühlen. Ich atme tief durch, Zeit das ich dem Mitleid ein Ende bereite.

„In Ordnung. Also los, was unternehmen wir zusammen, was mögt ihr am liebsten, wie haben wir uns kennengelernt? Ich will alles über euch und mich erfahren!"

Auf den Gesichtern der beiden breitet sich ein Lächeln aus. Neeve setzt sich auf die andere Seite des Bettes und nimmt vorsichtig meine Hand.

Es ist anstrengend und wundervoll. Die beiden sind so lebensfroh und unbeschwert. Sie quasseln die ganze Zeit und nur ab und an halten sie inne, dann warten sie auf mein ermutigendes Lächeln um gleichdarauf fort zu fahren.

Sie beschreiben ihre Welt in den schillerndsten Farben, wie es nur jene Glückliche vermögen, die nicht an der Wahrhaftigkeit ihrer Worte zweifeln. In meinem plötzlich aufkeimende Neid lasse mich in diese Welt mitziehen, ich lasse mich verzaubern und genieße die Vertrautheit, welche zwischen uns herrscht. Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Es scheint so leicht zu sein. Sie haben auch Unterricht, aber ihren Erzählungen entnehme ich, dass es ein Ort voller Fragen und Antworten ist, liebevolle Strenge und jugendliche Rebellion. Kein hinsetzen und zu hören und wieder gehen. Keine Fragen ohne Antworten. Und auch wenn sie davon nicht ansatzweise so begeistern scheinen wie ich, füllt der Unterricht ihr Leben. Nicht unbedingt mit Wissen, aber mit Freunden und Veranstaltungen. Mit Aufgaben und Erlebnissen. Er scheint ihren Alltag zu bestimmen und einen Sinn zu verleihen. Er klingt wie ein Ort aus meinen Büchern. Wo die Leichtigkeit der Jugend bewahrt wird, ehe die Last der Welt sie erdrückt.

Ich könnte gar nicht benennen wann ich diese Schwere um mein Herz spürte. Vielleicht als ich außen auf der Wiese im Gras lag und entdeckte, was mir verwehrt wurde. Oder als ich Ruven verlor. Vielleicht auch schon viel früher - als die Fragen sich mir immer stärker aufdrängten und nicht mehr länger nur lästige Gespinste vor dem Einschlafen waren.

Ich könnte ihn nicht benennen, den Zeitpunkt. Aber die Schwere fühlt sich vertraut an. Sie hat längst ihre Hand um mich geschlossen und die Leichtigkeit wird immer öfter vertrieben.

Aber ihnen ist diese Schwere unbekannt. Sie reden so unbekümmert von ihrer Welt, als sei es die einzige. Und das ist sie gewissermaßen, denn sie kennen keine andere. Etwas zieht sic in mir bitter zusammen und ich denke so muss Missgunst schmecken. Missgunst. Einer anderen Person etwas nicht vergönnen, missgünstig sein. Ich hatte soweit ich weiß nicht wirklich Erlebnisse, in welchen ich diesem Gefühl hätte nachgehen können. Und jetzt gärt es in mir. Und gleichzeitig blicke ich in diese unbeschwerten Gesichter mit ihrer beschränkten Wahrnehmung. Wie könnte ich ihnen ihre kleine Welt zum Vorwurf machen, wo sie doch gar keine Gelegenheit zum Ausbrechen haben?

Irgendwann kommt meine Mutter herein und bittet die zwei zu gehen. Sie verabschieden sich. Neeve hat Tränen in den Augen als sie mir mitteilt, dass sie mich lieb hat und es gut ist, dass ich wieder daheim bin. Reannes Hand ruht nur kurz auf meiner Schulter, dann sagt sie mir zwinkernd, dass es ohne mich ganz schön langweilig gewesen wäre und ich mich das nächste Mal nicht so anstellen soll.

Ich bin dankbar, dass sie die Beiden weggeschickt hat, wenn gleich aus anderen Gründen als sie annehmen mag. Letztlich bin ich nicht so geschwächt wie sie denkt. Die Narbe an meiner Brust verheilt gut. Aber dennoch bin ich froh um die Ausrede. Mein Kopf quillt über mit all den Eindrücken die ich aus den Erzählungen gewonnen habe, ich brauche Zeit um das zu verarbeiten.

Und ich brauche Zeit um mich vor zu breiten... darauf ein Teil von dieser Welt zu werden.

Spares - Sag mir wer ich binWo Geschichten leben. Entdecke jetzt