3 | Freistunde

8.6K 345 22
                                    


~~~

Am nächsten Tag in der Schule ertappte ich mich dabei, wie ich auf den Fluren nach Miss Kennedy Ausschau hielt, mein Blick flackerte unruhig umher, und auch wenn ich immer wieder versuchte, mich nicht so seltsam zu verhalten, wollte es mir einfach nicht gelingen. Ich konnte es mir zwar nicht wirklich erklären, aber ich wollte sie unbedingt wieder sehen. Vielleicht, weil meine Gedanken seit dieser gestrigen Stunde Deutsch um fast nichts anderes kreisten, das wäre zumindest ein mögliche, mehr oder weniger logische Erklärung.

In der zweiten Pause erblickte ich endlich ihren blonden Haarschopf vor dem Lehrerzimmer, wo sie sich mit einem Lehrer, den ich vom Sehen her kannte, unterhielt.

„Könnt ihr schonmal vorgehen?", fragte ich in Richtung Emily und Julie. 

„Ja klar." Ohne weiter nachzufragen führten die beiden ihren Weg nach draußen Richtung Schulhof fort. 

Doch was jetzt? fragte ich mich selber. Sollte ich mit ihr sprechen? Das würde ich mich sowieso nicht trauen, und außerdem wüsste ich auch gar nicht unter welchem Vorwand ich sie ansprechen sollte. Also blieb ich einfach stehen, und beobachtete sie unauffällig aus der Ferne. Sie faszinierte mich, das konnte ich nicht leugnen, ihre Art, mit der sie einfach bei jedem gut anzukommen schien. Hätte ich nicht gewusst, dass sie neu an der Schule war, hätte ich es nicht gemerkt, sie wirkte wie ein fester Bestandteil des Kollegiums, so wie sie sich mit ihren Kollegen unterhielt, entspannt und losgelöst, Witze machte als wäre es nie anders gewesen. Sie war das komplette Gegenteil von mir, stellte ich fest, und ich wusste tief im Inneren, dass ich eines Tages gerne so wäre wie sie, mit ihrer Offenheit, ihrem Selbstbewusstsein und dieser Art, gut bei ihren Mitmenschen anzukommen. Wäre ich an ihrer Stelle hätte ich mich wahrscheinlich so sehr verunsichern lassen, davon, jünger zu sein als die meisten meine Kollegen, und davon, die „Neue" zu sein. Ich an ihrer Stelle hätte die Pause wahrscheinlich lieber auf der Toilette verbracht, um soziale Interaktionen und mögliche Fettnäpfchen zu vermeiden.

Kurz darauf wurde mir bewusst, wie peinlich ich mich grade verhielt. Ich stand hier, und beobachte meine Lehrerin, als wäre ich ein Stalker oder so.
Also riss ich mich schweren Herzens von ihrem Anblick los, und machte mich ebenfalls auf den Weg auf den Schulhof zu meinen Freundinnen.

Gerade als ich durch die Tür nach draußen trat, stieß ich mit jemandem zusammen.

„Oh fuck sorry, tut mir echt leid", hörte ich die Stimme eines Jungen sagen.

Ich blickte hoch, und sah in das gut gebräunte Gesicht eines Jungen, das für meinen Geschmack viel zu nah an meinem Gesicht waren. Dies schien auch ihm in diesem Moment bewusst zu werden, denn er machte einen großen Schritt nach hinten, jedoch ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. 

„K...kein Problem", stotterte ich überrascht, und spürte wie meine Wangen heiß wurden, etwas, was mir in vielen Situationen passierte. Wie ich das hasste. In unvorhersehbaren Momenten fing ich oft an zu stottern, oder wurde rot.

Der Junge lächelte mir nochmal zu, und wand sich dann zum Gehen.

Ich blieb noch einen Moment stehen, und wartete, bis sich sowohl mein Puls, als auch meine Gesichtsfarbe normalisiert hatten, und atmete tief durch. Als ich mich gerade auf den Weg zu Emily und Julie machen wollte, klingelte es jedoch bereits zur 5. Stunde.

Ich hatte jetzt eine Freistunde, also machte ich es mir draußen auf einer Bank gemütlich, um die wahrscheinlich letzten Sonnenstrahlen des Sommers zu genießen, denn das Wetter ließ bereits erahnen, dass der Herbst bevorstand. Gedankenverloren zog ich mein Handy und meine Kopfhörer aus der Tasche, und genoss die Ruhe, die sich mit den ersten Tönen meiner Musik in meinem Körper ausbreitete.
Musik war schon immer ein wichtiger Bestandteil meines Lebens gewesen,  ich konnte mich in ihr verlieren, und all meine Sorgen für einen Moment vergessen. Auch wenn ich mir bewusst war, dass die Lautstärke meiner Musik nicht gerade zur Besserung meines Hörvermögens beitrug, konnte ich mir einfach nicht abgewöhnen, die Musik leiser zu stellen, auch wenn mich meine Eltern schon oft ermahnt hatten. Doch so gelang es mir am besten, die Außenwelt auszublenden, und meine Gedanken für eine Weile übertönen zu können.

Ich schloss die Augen, und genoss es, mich meiner Musik vollkommen hinzugeben, während die angenehm warme Septembersonne auf mein Gesicht schien, und meinen Körper wärmte. Irgendwann bemerkte ich jedoch, dass nur wenige Meter entfernt jemand stand, und mich ansah. Erschrocken blickte ich auf, und sah in die schönsten, grünen Augen, die ich jemals gesehen hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich sammeln konnte, um hastig meine Kopfhörer aus den Ohren zu ziehen, und zu realisieren, dass die Augen zu niemand geringerem als meiner neuen Deutschlehrerin gehörten.

Abwartend sah ich sie an, und versuchte, meine plötzlich auftretende Anspannung so gut es ging zu überspielen, was sich jedoch bei der Hitze, die mir ins Gesicht stieg, schwieriger war als gedacht. 

„Samantha, richtig?", fragte sie schließlich.

Wow, Namen merken schien auch zu einer weiteren ihrer Stärken zu gehören. Gab es irgendetwas was diese Frau nicht total gut zu können schien?

Ich nickte, und hätte mich innerlich ohrfeigen können, für mein wahrscheinlich total dämlich wirkendes Nicken, doch ich brachte einfach kein Wort heraus.

„Kann ich dich kurz etwas fragen?" Allein diese Frage schaffte es, meinen Puls innerhalb weniger Sekunden nach oben schnellen zu lassen. 

Als ich ihr keinerlei Antwort gab, sondern sie nur erwartungsvoll ansah, fuhr sie fort. „Habt ihr im letzten Schuljahr bei Mrs Bail schon den Sandmann von E.T.A. Hoffmann angefangen? Normalerweise wäre der noch teilweise Teil des Lehrplans letztes Jahr gewesen, ich habe mir aber sagen lassen, dass kurz vor den Sommerferien krankheitsbedingt Deutsch oft ausgefallen ist." Sie machte eine kurze Pause. „Eigentlich wollte ich das den Kurs in der nächsten Stunde fragen, aber als ich dich hier draußen habe sitzen sehen, dachte ich, ich könnte dich das auch fragen." Ein leichtes Schmunzeln umspielte ihre Lippen, welches mir die Konzentration auf ihre Worte noch mehr erschwerte.

„Nein, so wirklich haben wir nicht damit angefangen", antwortete ich, und hoffe inständig, dass sie die Nervosität in meiner Stimme überhörte. „Wir sollten uns das Buch zwar kaufen, und haben auch in ein oder zwei Doppelstunden angefangen, darüber zu sprechen, aber dann ist Mrs Bail ganz plötzlich krank geworden, und Deutsch ist bis zu den Sommerferien ausgefallen." 

„Okay, danke dir", erwiderte sie, „also fangen wir am Besten noch einmal bei null an?"

„Ich denke das wäre am Besten." Ich spürte, wie ein wenig der Anspannung von mir abfiel, und es mir sogar gelingen konnte, ihr ein zurückhaltendes Lächeln zu schenken.

„Dann will ich dich auch gar nicht länger in deiner Freistunde stören." Sie wand sich zum Gehen, und ich wollte ihr am Liebsten sagen dass sie mich absolut gar nicht störte, dass sie gerne bleiben konnte, ich wollte mich noch länger mit ihr unterhalten, und das paradoxerweise, obwohl ich mich in ihrer Nähe so unsicher fühlte.

Plötzlich hielt sie inne, und drehte sich zurück zu mir um. „Bring Me The Horizon?", fragte sie wie aus dem Nichts.

Die Irritation schien mir ins Gesicht geschrieben zu sein, denn sie deutete auf die Kopfhörer, die ich noch immer in der Hand hielt. „Das ist doch Bring Me The Horizon oder? Ein Lied von dem neuen Album?"

Erst jetzt realisierte ich, dass die Musik die ganze Zeit über weiter gelaufen war, und noch immer durch meine Kopfhörer nach draußen drang. Sie hatte also, wie ich gestern schon vermutet hatte, wirklich gute Ohren.

„Ja, das ist tatsächlich ihr neues Album, ist echt super geworden finde ich." Zwar nicht die einfallsreichste Antwort, aber immerhin war es mir gelungen, überhaupt eine vernünftige Antwort zu geben.

„Da hast du definitiv Recht." Mit der linken Hand schob sie ihre Tasche zurück auf ihre Schulter, die kurz davor war, herunterzufallen. "Ist eine meiner Lieblingsbands", fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

„Ist auch eine meiner Lieblingsbands", erwiderte ich etwas schüchtern. Noch immer fühlte ich mich unsicher, und hatte Angst, dass Miss Kennedy dies mitbekam.

Wir schwiegen eine Weile, bevor sie sich mit einem Blick auf die Uhr und einem „Ich muss noch etwas für meinen Unterricht gleich kopieren gehen", endgültig zurück auf den Weg ins Schulgebäude machte.

~~~





Miss Kennedy. (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt