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Entsetzt realisierte Epheriel, dass er von dem Netz Stück für Stück näher an die Wasseroberfläche gezogen wurde. Panik machte sich in ihm breit und er versuchte vergeblichst die Seile, die ihn umgaben, zu zerreißen. Mittlerweile war er mit dem Kopf über Wasser. Sein langes, blaues Haar, welches zu den Spitzen hin immer heller wurde, bis diese schließlich weiß waren, klebte ihm an Kopf und Oberkörper und wirkte wie nasser Seetang. Die Luft brannte wie Feuer in seinen Lungen, Tränen traten ihm in die graublauen Augen.

Unbarmherzig wurde das Netz immer weiter nach oben gezogen. In seiner Verzweiflung probierte Epheriel es durchzubeißen. Und tatsächlich! Innerlich triumphierte er schon, als er das gerissene Seil sah, doch da landete er auch schon unsanft auf dem Deck eines großen Kutters auf dem Bauch.
Wild schlug er mit seiner metallisch blau glänzenden Flosse um sich, jedoch verschlechterte dies seine Lage nur noch mehr, denn das Netz zog sich immer enger um seinen schlanken Körper. Epheriel zog scharf die Luft ein, an manchen Stellen schnitten die Seile bereits in seine blasse Haut und es trat etwas Blut aus den Wunden, welches auf den nassen Boden tropfte und sich dort mit dem Salzwasser vermischte.

Als einer der Männer des Schiffes ihm näherkam, um ihn auf den Rücken zu drehen, fauchte er diesen an, wie ein wildes Tier, das einen Eindringling verscheuchen will. Während er seine Zähne fletschte und knurrte, zog er die Augenbrauen zusammen und funkelte ihn mit seinen graublauen Augen feindselig an. Wenn Blicke töten könnten.
Der in einen dunkelgrünen Arbeitsoverall Gekleidete ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken. Ihm war klar, dass der Gefangene in seinem Zustand nichts ausrichten konnte. Grob wurde der auf dem Deck Zappelnde an den Armen gepackt und auf den Rücken gedreht.

"Hey, ich dachte immer, die hätten riesige Titten", grinste ein anderer der Crew hämisch und fasste sich gespielt grübelnd ans Kinn, während er den empörten Blauhaarigen amüsiert musterte.
"Erstens: Ich bin männlich, da ist es logisch, dass ich keine Möpse habe", schnaubte Epheriel genervt und die Augen verdrehend, "Und Zweitens: Ihr glaubt doch ohnehin nur die ganzen Klischees, die ihr über uns in euren Büchern schreibt und in Filmen, oder wie auch immer diese bewegten Gemälde von euch heißen, zeigt. Wahrscheinlich meint ihr auch, wir säßen den lieben langen Tag nur auf irgendwelchen Felsen und würden uns währenddessen die Haare kämmen, mit Fischen singen, mit Delfinen schwimmen und Schiffe in ihren sicheren Untergang führen, welche wir danach erkunden, nicht wahr?"

"Oh, es kann ja sprechen und nicht nur fauchen", lachte ein Dritter, der sich neben den Blauhaarigen kniete und sich über ihn beugte. Epheriel fiel dabei die kleine Narbe auf dessen rechter Wange auf, die schon etwas älter aussah.
"Aber egal, ob Brüste oder nicht", fuhr der Braunhaarige fort, "Für einen hübschen kleinen Meermann wie dich bekommen wir eine ordentliche Summe" Der Gefangene erschrak, als er diese Worte hörte und die Gier in den Augen des Mannes aufblitzen sah.
Der junge Meeresbewohner hatte schon oft die Ältesten über eigenartige Wesen, die statt Schwanzflossen zwei Stängel, welche anscheinend Beine genannt werden, haben, und sich selbst als Menschen bezeichnen, reden gehört. Das, was er über Menschen gehört hatte, bereitete ihm die schlimmsten Albträume. Sie werfen allen nur erdenklichen Müll in die Ozeane, oder sind mit ihren riesigen Schiffen so unvorsichtig, weshalb es manchmal dazu kommt, dass eine ekelhaft klebrige, schwarze Suppe, die von den Zweibeinern Öl genannt wird, sich über große Flächen ausbreitet und die ganzen Lebewesen im und in der Nähe des Wassers elendig verrecken, wenn sie damit in Berührung kommen. Zudem fischen sie in den Jagdgebieten der Meerbewohner, und obwohl die Meere bereits komplett überfischt sind, werfen sie noch immer ihre Netze aus und reduzieren weiter die Fischbestände. Bei diesen Fischfängen landen außerdem nicht nur Speisefische in den Netzen, sondern auch eine Menge Beifang, ein Beispiel dafür wären Delfine.
Einmal hatte Epheriel selbst gesehen, wie Landbewohner einen Hai gefangen hatten. Es war bei Weitem das Grausamste, das er je gesehen hatte. Nachdem man dem Knorpelfisch lediglich die Flossen abgehackt hatte, wurde er einfach wieder ins Meer geworfen. Das aus dem Kadaver strömende Blut lockte sogleich kleinere Jäger an, die sich sofort an dem toten Tier zu schaffen machten. Der junge Meermann konnte in jenem Augenblick die Herzlosigkeit und Grausamkeit der Menschen nicht fassen. Es war ihm klar, das Leben war grausam und es hieß, fressen oder gefressen werden, aber es würde kein Tier nur wegen einem einzigen Bissen töten. Und selbst wenn, würde der Rest aufgehoben und später verzehrt werden.
Aber Menschen waren keine Tiere, sie waren etwas noch Grausameres.
Außerdem wurden die Kleinen schon seit Jahrhunderten vor den Luftatmern gewarnt, da es schon einige Male passiert ist, dass eine Meerjungfrau, wenn sie sich zu nahe an sie herangewagt hatte, von ihnen verschleppt wurde und niemand weiß, was mit den Entführten passierte.

Nun würde ihn dasselbe Schicksal treffen. Das junge Fabelwesen hatte zwar Angst, aber es bereute nicht, zu nahe an den Fischkutter geschwommen zu sein.
Ansonsten wäre nun Epheriels elfjähriger Neffe an seiner Stelle. Der Sohn seiner älteren Schwester war mit seiner violetten Schwanzflosse zwischen zwei Felsen hängen geblieben, während bereits das Netz ins Wasser gelassen worden war. Ihm lag der Junge sehr am Herzen, er hatte schon als Achtjähriger auf den neugeborenen Nooka aufpassen dürfen. Deswegen war es für ihn selbstverständlich, dem in Panik geratenen Kind zu helfen. Doch als der Junge endlich befreit worden war, wurde Epheriel plötzlich von dem Netz erfasst.
Geschockt war Nooka seinem Onkel hinterhergeschwommen, doch dieser rief ihm nur zu: "Schwimm! Verschwinde! Bring dich in Sicherheit!" Zuerst hatte der Pinkhaarige gezögert, doch war er dann den Anweisungen seines Verwandten schlussendlich nachgekommen.

Epheriel starrte weiterhin wütend, aber auch leicht verunsichert, in das Gesicht mit der Narbe. Der Grünäugige grinste nur überheblich zurück, ehe er sich aufrichtete.
"So, genug geplaudert, ran an die Arbeit!", rief er nun über das Deck. Dies war wohl das Signal für den Kerl mit dem grünen Overall und dessen Kollegen, denn plötzlich packten die beiden den Blauhaarigen an den Armen und Schultern und pressten ihn auf den Boden, sodass er sich kein Stück mehr bewegen konnte. Der Braunhaarige und offensichtliche Rädelsführer begab sich schnellen Schrittes zu einer kleinen schwarzen Kiste, aus der er eine Spritze holte.
Mit einem teuflischen Lächeln auf den Lippen begab er sich wieder zu dem Gefangenen, dessen Augen sich bei dem Anblick des Gegenstandes vor Furcht weiteten.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er Unrat von Menschen gefunden, wobei er sich an einer solchen Nadel verletzte. Epheriel wusste nicht, was es war, er wusste nur, dass es Schmerzen verursachte und deshalb wahrscheinlich von den Luftatmern als Folterinstrument verwendet wurde.
Sein Körper begann zu zittern, als sich der Mann wieder neben ihn niederließ und die Nadel an seinem Hals ansetzte. "Nein! Hör auf! Lass mich in Ruhe!", schrie der junge Meermann aus Leibeskräften, doch ihm wurde daraufhin einfach nur der Mund zugehalten.
"Halt die Klappe!", zischte sein Peiniger bedrohlich, während der Junge wimmernd unter ihm lag, als er ihm die Nadel durch seine blasse Haut in das weiche Fleisch stach und ihm den Inhalt der Spritze injizierte. Es dauerte nicht lange, bis dem Grauäugigen schwindelig wurde und ihm auch schon die Lider zufielen.
"Warum passiert so etwas? Was haben wir den Menschen angetan, damit sie uns so behandeln?", war der letzte Gedanke, den er fassen konnte, bevor ihn Dunkelheit umhüllte.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt