Ivonne 2
Sie erwachte durch das Geräusch einer Tür, die ins Schloß gezogen wurde. Ihr Kopf dröhnte. Auch ihr Magen schmerzte, was von zu wenig Nahrung herrührte. Der Geschmack in ihrem Mund ekelte sie an.
Mühsam setzte sie sich auf. Alles drehte sich um sie. Ihre Glieder waren steif von der harten Unterlage. 'Wenigstens war es relativ warm.' Der Gedanke heiterte sie nur geringfügig auf. Ihr Magen zog sich wieder zusammen.
Zwar hatte sie vor dem Dachboden einen Platz zum Schlafen gefunden, aber in ihr schwang immer die Angst mit, entdeckt und vertrieben zu werden.
Ihr Nacken tat weh, sie hatte in einer verkrampften Haltung geschlafen. Möglichst klein zusammen gerollt, um nicht entdeckt zu werden. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich beeilen musste. 'Erstmal was zu Essen organisieren.'
Ivonne stopfte ihre Decke in den Rucksack und stand langsam auf. Wirklich Lust, raus zu gehen, hatte sie nicht. Es bedeutete nur, dass sie abends wieder nach einem Schlafplatz suchen musste. Trotzdem brachte sie sich dazu, ihren Rucksack zu schultern und in ihren Hosentaschen nach Kleingeld zu kramen.
Auch die Zeit saß ihr im Nacken. 'Scheiße, wieder pumpen gehen.' Sie hasste es, fremde Menschen auf der Straße ansprechen zu müssen. Manchmal lief es gut, aber an anderen Tagen war das Ergebnis wirklich grottig. Und sah sie so aus wie heute, würde jeder verachtende Blick sie zusätzlich innerlich zusammen zucken lassen.
Nicht, dass sie sich nicht eh schon schlecht genug fühlte.
Ivonne verließ den Treppenabsatz, der ihr als Bett gedient hatte und schlich die Stufen hinab. Sie wollte auf keinen Fall einem der Bewohner in die Arme laufen. Als sie an der ersten Tür vorbei gehen wollte, ging diese plötzlich auf. Ängstlich schlich sie schnell und so leise sie konnte einige Schritte zurück und verbarg sich in einer Nische, in die sie mit ihrem Rucksack gerade so reinpasste.
Sie hielt den Atem an und hörte erstmal nichts, als ihr eigenes Blut, das durch ihre Adern rauschte. Mit klopfendem Herzen wartete sie ab. Eine Person trat aus der Tür, durch den Vorsprung in der Wand vor Ivonnes Blick verborgen.
Die Tür wurde zugezogen, dann hielt die Person inne. Ivonne presste sich noch fester an die Wand und hoffte inständig, dass sie nicht entdeckt würde. Schon oft hatte sie erlebt, wie Fremde auf ein Mädchen, das auf der Straße wohnt, reagierten. Gerade, wenn sie in ihrem Treppenhaus 'umherstrich'.
Zweimal hatte jemand die Polizei gerufen. Ein anderes Mal hatte sie ein Mann am Arm gepackt, vor die Tür geschleift und mit Prügel gedroht, würde sie sich nochmal blicken lassen. Eine Minute später hörte sie erleichtert, wie Schritte sich von ihr entfernten und jemand die Treppe hinunter zum Eingang ging. Adrenalin rauschte durch ihre Blutbahn und sie lehnte erleichtert ihren Kopf an die Wand.
'Das war knapp.' Sie musste sich in Zukunft zwingen, zeitig zu verschwinden. Genau, um solche Situationen zu vermeiden. Nachdem sich ihr klopfendes Herz beruhigt hatte, schob sie ihren Kopf vor und linste um die Ecke. 'Luft ist rein.' Langsam löste sie sich von der Wand und steuerte erneut die Treppe an.
Auf der zweiten Stufe blieb Ivonne stockend stehen.
Hatte sie richtig gesehen? Sicher nicht. Und wenn, was ging es sie an? Unsicher drehte sie sich um und ging die drei Schritte zu der Tür zurück.
Richtig. Sie hatte sich nicht geirrt. Die Eingangstür zu der Wohnung, aus der gerade der Bewohner gekommen war, stand einen Spalt breit offen.
'Ob wohl noch jemand drin ist?' Sie konnte keine Geräusche ausmachen. 'Und wenn nicht, was hilft es mir. Ich kann unmöglich da rein gehen!' Aus der Wohnung strömte warme Luft, noch viel wärmer, als es im Treppenhaus je werden konnte.
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Im Blick des Todes
Fantasy"Der Tod betrifft uns nicht. Solange wir da sind, ist er nicht; und wenn er da ist, sind wir nicht mehr."