Während Luca im Herrenhaus des Summerson-Gestüts verschwand, betrat im Londoner Stadtteil Kensington Graf Viktor Draganesti die Küche seiner Villa.
Sein Butler Sebastian drehte sich erstaunt um, denn für gewöhnlich schlief sein Herr um diese Zeit noch.
»Schau nicht so verdattert. Ich habe Hunger und da du deinen freien Tag hast - eigentlich - muss ich mich ja selbst versorgen.Was tust du überhaupt noch hier? Wolltest du nicht irgendwohin?« Der Graf holte sich eine Tasse aus dem Schrank, die Sebastian ihm allerdings aus der Hand nahm. Dann deutete der Butler in Richtung des Tisches. »Nehmt Platz, Herr. Da Ihr sowieso auf seid, werde ich Euch Euer Frühstück wie gewohnt fertig machen. Ihr wisst, dass ich nicht auf meine Freizeit bestehe und meine Verabredung ist erst nach Mittag.«
Graf Viktor ließ sich auf einem der Stühle nieder und schmunzelte. »Aber ich bestehe auf deine freien Tage. Du arbeitest genug, also hast du sie auch verdient. Ich bin kein Baby und kann mich sehr wohl selbst versorgen. Wie oft müssen wir diese Diskussion noch führen?«, er schüttelte mit dem Kopf und fuhr dann fort, »So, du hast also eine Verabredung! Darf ich wissen mit wem?«
Während Sebastian seinem Herrn eine Tasse Tee hinstellte und sich daran machte, das Frühstück zuzubereiten, antwortete er: »Sicher dürft Ihr das. Das ist ja kein Geheimnis. Ihr erinnert Euch vielleicht an die junge Frau, die wir auf dem Ball vor drei Wochen wiedergetroffen haben. Die, die ich auf dem Gestüt kennengelernt habe. Wir stehen seit dem Ball in Kontakt und heute sind wir das erste Mal verabredet. Ich werde sie nachher draußen in Reading abholen.«
»In Reading?«, Viktor überlegte einen Augenblick, »Du könntest mich eigentlich mitnehmen.«»Wollt Ihr als Anstandsdame mitkommen?«
»Als Anstands...?« Der Graf kicherte. »Gott bewahre, nein. Aber auf dem Gestüt arbeitet doch dieser junge Mann, Luca. Ich hätte Lust auf einen Ausritt und vielleicht kann ich ihn ja überreden, mich zu begleiten.«»Ich bin davon überzeugt, dass Ihr das könnt«, erwiderte Sebastian, »er schien auf dem Ball sehr angetan von Euch gewesen zu sein.«
Viktor zog eine Braue hoch. »So? Was macht dich denn da so sicher?«
»Er hat Euch den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen. Hat immer irgendwie Eure Nähe gesucht und ... na ja, hat Euch regelrecht mit seinen Blicken verschlungen. Und bei unserem Besuch auf dem Hof damals, war zwischen Euch und ihm auch so ein ... Knistern. Ihr wisst, dass ich ein aufmerksamer Beobachter bin«, antwortete der Butler schmunzelnd und deckte den Tisch ein.
»Wirklich? Das war mir gar nicht so bewusst. Na, dann ...« Der Adlige grinste und biss in ein Brötchen. Natürlich wusste er, dass sein Leibdiener recht hatte.
Nach dem Frühstück räumte Sebastian ab, während der Graf sich erhob.
»Wann willst du los?«
Der Butler schaute auf die alte Wanduhr neben dem Kühlschrank. »Gegen ein Uhr. An einem Samstag sollte um die Mittagszeit am wenigsten los sein, wenn man aus der Stadt raus will. Hoffe ich.«
»Gut! Ich werde dann nach oben gehen, mich frischmachen und umziehen. Das solltest du auch tun.« Graf Viktor zwinkerte Sebastian zu, verließ den Raum und stieg die Treppe hinauf, die zu seinen Privatgemächern führte, um erst einmal unter die Dusche zu verschwinden.
~
Zur gleichen Zeit checkte Luca die Harley für den kleinen Ritt durch, bevor er ins Haus ging, um einige Sachen zusammenzupacken. Handtücher, Hygieneartikel, Wechselklamotten und einige Teelichte fanden den Weg in seinen großen Rucksack. Anschließend machte der junge Mann sich ein paar Sandwiches fertig und packte diese in eine kleine Kühltasche, die er in einer der Satteltaschen des Motorrads verstauen wollte, zusammen mit je einer Flasche Wasser und Cola. Zum Schluss rollte er noch eine dünne Fleecedecke zusammen. Diese wollte er auf dem Sozius der Maschine festzurren. Luca musste über sich selbst schmunzeln und den Aufwand, den er für die wenigen Stunden, die er am See sein würde, betrieb, aber er wollte nicht gezwungen sein, am Abend doch noch hierher zurück zu fahren, nur weil er etwas für ihn Wichtiges vergessen hatte. Er brauchte eigentlich nicht viel, aber ein paar Sachen mussten mit. Bevor Luca das Haus wieder verließ, sprang er noch schnell unter die Brause und wusch sich den Stalldreck vom Körper. Schwimmen im See hin oder her. Er konnte sich schlecht darin die Haare mit Shampoo waschen und das in der Dusche der Hütte mit kaltem Wasser zu tun, danach stand ihm nicht der Sinn. Nachdem er wieder sauber und duftend war, machte Luca sich auf den Weg nach draußen und verstaute seine Sachen ordentlich auf der Harley.
»Was nimmst du denn alles mit? Willst du auswandern?«
Der junge Mann hob den Blick und schaute Willow an. »Du kennst mich doch. Lieber zu viel mitnehmen als zu wenig.«
Seine Freundin zuckte grinsend mit den Schultern. »Stimmt, du könntest verhungern. So ganz alleine im Wald, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation.«
Sich langsam aufrichtend, musterte Luca die Rothaarige und sagte schmunzelnd: »Lass mir meinen Spleen. Ich tu ja keinem weh damit.«
Willow lachte leise und strich ihm eine weißblonde Strähne aus den Augen. »Ich lass dich ja. Ich find's nur amüsant.«Sich gegen das Motorrad lehnend, ließ der junge Mann den Blick über seine Freundin wandern und nickte anerkennend. »Du hast dich ja richtig fein gemacht für ... Mr. Nichts Besonderes.« Dabei grinste er über das ganze Gesicht und fing sich gleich eine dafür ein. Lachend boxte Willow ihm spielerisch auf den Oberarm und strich dann über ihr leichtes dunkelblaues Sommerkleid, das kurz über ihren Knien endete.
»Du bist ein Idiot, Luca. Soll ich in Sack und Asche gehen?«
»Natürlich nicht. Siehst gut aus, Süße. Wird deinem Date gefallen.« Immer noch grinsend nahm der junge Mann auf der Harley Platz. »Ich wünsche mir wirklich, dass du ganz viel Spaß hast und einen richtig tollen Abend. Du hast es verdient.«
Ein wenig verlegen sah Willow ihn an. »Danke. Du hättest es aber auch verdient.«
Luca zuckte mit den Schultern. »Irgendwann passiert vielleicht ein Wunder. Im Moment ... Ach, vergiss es. Amüsiert euch schön. Ich mach mich mal auf die Socken. Sonst ist der Tag rum, bevor ich am See ankomme. Bis ... Ich schätze mal morgen?! Wenn du Alan noch siehst, dann sag ihm, dass ich weg bin!«Der junge Mann startete das Motorrad und nachdem Willow ihn noch kurz umarmt hatte, fuhr er langsam über den Hof in Richtung des hinteren Eingangs, von wo aus ein schmaler Weg an den Koppeln entlang hinunter zum Wald und damit auch zum See führte.
Die junge Hexe sah ihm noch einen Augenblick hinterher und seufzte leise. Seit ein paar Wochen war Luca wieder total verschlossen und sonderte sich ab, wo immer er die Gelegenheit hatte. Er redete auch nicht mit ihr, wie er es sonst immer machte, wenn etwas ihn bedrückte, obwohl sie schon einige Male nachgefragt hatte, was denn los sei. Luca tat es immer ab, als wäre nichts und er habe halt keine Lust zu reden oder generell auf Gesellschaft. Es sei bloß eine Phase. Aber die junge Frau kannte ihren Kumpel besser. Irgendetwas stimmte nicht und sie hoffte, dass er sich ihr vielleicht doch noch öffnen würde.
Sich auf die Bank im Schatten der großen Eiche in der Mitte des Hofes setzend, grübelte sie noch eine Weile, bis das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies des Geländes sie wieder in die Realität zurückholte. Sie hob den Blick und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den schwarz-silbernen Bentley sah, der ein Stück von ihr entfernt anhielt.
Langsam erhob sie sich und ging auf den Wagen zu, hielt dann aber einen Moment irritiert inne, als nicht nur Sebastian aus dem Auto stieg, mit dem sie verabredet war, sondern auch sein Arbeitgeber. Willow sah von Sebastian zu Graf Viktor und wieder zurück und zog eine Augenbraue hoch, was ihr Date zum Lachen brachte.
»Keine Sorge, Miss Bennett, mein Butler setzt mich hier lediglich ab. Ich habe kein Interesse, Sie bei Ihrer Verabredung zu begleiten«, Viktor beobachtete die junge Frau schmunzelnd, die sich nach der ersten Überraschung wieder in Bewegung gesetzt hatte und vor den beiden Männern stehen blieb.
»Das wäre auch ... sehr seltsam, Graf Draganesti. Nicht, dass ich etwas gegen Ihre Gesellschaft hätte, aber ich denke, ich bin doch lieber mit Sebastian alleine«, erwiderte Willow lächelnd und fuhr dann fort, »und wie wollen Sie sich die Zeit hier vertreiben?«»Ich bin ehrlich gesagt nur mitgefahren, weil ich Lust auf einen Ausritt habe.«
»Oh, dann werde ich Alan, Mr. Summerson, mal Bescheid sagen.«
»Nun, ich hatte eher gehofft, dass sein Neffe vielleicht ...«
»Luca? Das ist ärgerlich. Den haben Sie gerade verpasst. Er ist auf dem Weg runter zum See. Soll ich ihn anrufen und zurückpfeifen?« Willow kramte in der Handtasche nach ihrem Handy.Doch Viktor wiegelte ab. »Nein! Ich möchte auf keinen Fall, dass Luca durch meine spontanen Gelüste sein Vorhaben aufgibt. Es ist schon in Ordnung. Wenn Sie Mr. Summerson Bescheid sagen, würde mir das vollkommen genügen, Miss Bennett.«
»Gut, dann werde ich das eben erledigen, Graf«, die junge Frau wandte sich ab, hielt aber dann noch einen Moment inne, »und Willow reicht. Bei Miss Bennett fühle ich mich so ... alt.«
Viktor nickte schmunzelnd. »Ich werde Ihren Wunsch berücksichtigen.«
»Gut! Ich bin gleich wieder da.« Mit einem Lächeln drehte die Rothaarige sich um und lief hinüber zum Herrenhaus.

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Never Enough
VampireUnerträgliche Sommerhitze. Was liegt da näher, als das Wochenende an einem See zu verbringen? Luca sucht die Ruhe und Abgeschiedenheit des gestütseigenen Gewässers, um nicht nur der Wärme sondern auch für ein paar Stunden dem täglichen Stress zu ent...