Harry schaute den Dursleys hinterher; sie schienen zu lachen. Noch einmal schaute er auf das Ticket, ob er sich nicht verlesen hätte. Aber immer noch stand dort in großer, schwarzer Schrift Gleis 9 ¾. Er schluckte, packte seinen Gepäckwagen fester und schob ihn vor sich her. Er war verzweifelt, er wusste nicht, was er tun sollte und Hedwig wurde immer lauter. Die Leute, an denen er vorbeikam schauten ihn genervt an.
Als Hagrid ihm vor einigen Wochen gesagt hatte, er wäre ein Zauberer, hatte sich die Welt für ihn auf einen Schlag verändert. Er hatte sich gefreut, war aufgeregt gewesen, aber nun verpuffte all dies. Die Vorfreude verwandelte sich in Angst, das Aufgeregtsein wurde zu Panik. Er wusste nicht, was er tun sollte. Was, wenn er es nicht zum Zug schaffte? Würde Hogwarts ihn dann verweisen? Dann müsste er wieder zurück zu den Dursleys, zurück in sein altes, bemitleidenswertes Leben.
Mittlerweile trottete er einfach nur vor sich hin, den Kopf gesenkt, Tränen in den Augen, als eine Stimme ihn plötzlich aufschauen ließ.
„... alles voller Muggel hier", hörte er eine Frau sagen. Er drehte seinen Kopf in Richtung ihrer Stimme und sah eine ganze Familie, alle feuerrote Haare. Die Frau war etwas mollig und hatte ein freundliches Gesicht. An ihrer Hand lief ein Mädchen, ebenfalls mit roten Haaren, welches weinte. Vier weitere Jungen liefen hastig hinter ihnen her; einer von ihnen hatte sogar eine Eule. Harry fasste neuen Mut und schob seinen Wagen hinter ihnen her.
„Hör auf zu weinen Ginny, nächstes Jahr gehst du auch nach Hogwarts", sagte die Frau zu dem Mädchen, „und jetzt, wo ist das Gleis 9 ¾?"
Harrys Herz schlug immer schneller. Vielleicht war es noch nicht vorbei dachte er, als plötzlich eine Touristenmenge aus einem der ankommenden Züge stieg und er stehenbleiben musste. Und dann hatte er die Familie aus den Augen verloren.
„Nein", dachte er, „das kann doch nicht wahr sein."
Er ging einige Schritte in die Richtung in der er sie vermutete, aber er fand sie nicht mehr. Er schaute auf die Uhr; er hatte nur noch 15 Minuten. Seine Unterlippe begann zu zittern und er schaute sich hilfesuchend um, aber die Menschen beachteten ihn kein Bisschen.
Harrys Blick blieb an dem eines anderen Jungen hängen. Er glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben, und die Erinnerung traf ihn schlagartig; er war der Junge aus Madam Malkins" gewesen. Hatte er nicht auch gesagt, er würde nach Hogwarts gehen?
Harry schaute ihn hilfesuchend an. Trotz seines Kommentars über Hagrid war ihm jetzt jede Hilfe recht. Der Junge schauten ihn verwirrt an, drehte sich dann zu seiner Mutter, die etwas in ihrer Handtasche suchte und tippte sie an. Er sagte etwas zu ihr, deutete dann zu Harry und die Frau nickte abwesend. Als sie schließlich aufschaute, wurde sie, trotz ihrer bleichen Gesichtsfarbe, noch blasser. Harry, der sie genau beobachtete, sah, dass ihr Blick zu seiner Stirn wanderte. Die Frau schien nachzudenken, dann schaute sie Harry in die Augen und lächelte ihn freundlich an. Sie und der Junge kamen auf ihn zu.
„Hallo, kann ich dir helfen? Weißt du nicht, wie man zum Gleis 9 ¾ kommt?", fragte sie Harry leise. Dieser nickte hastig.
„Dann komm mit, mein Draco geht dieses Jahr auch zum ersten Mal nach Hogwarts", sagte sie und schaute ihren Sohn voller Hingabe an. Harry wurde, ungewollt, etwas eifersüchtig.
„Ich bin Narcissa Malfoy, wie heißt du denn?", fragte sie.
„Harry Potter", antwortete er etwas unsicher. Mrs Malfoy lächelte immer noch, jedoch schwächelte es etwas, nachdem Harry seinen Namen genannt hatte.
Mrs Malfoy nickte den Jungs dann zu und ging dann voraus. Harry und Draco schoben ihre Wägen hinterher. Harry fühlte sich deutlich erleichtert; er würde nach Hogwarts gehen. Und womöglich hatte er schon einen Freund gefunden. Er entschied sich, Dracos und seine Konversation in Madam Malkins zu vergessen.
Völlig in Gedanken über Hogwarts versunken merkte Harry nicht, dass Mrs Malfoy stehen geblieben war und wäre so fast in sie reingefahren. Sie standen nun vor einer Wand.
„Harry, du wirst durch die Barriere laufen müssen." Mrs Malfoy deutete auf auf die Wand. Harry verstand nicht. Er sollte durch eine Wand laufen? Mrs Malfoy hatte das wohl bemerkt, da sie ihn ermutigend anschaute.
„Mach dir keine Sorgen. Du musst einfach durchlaufen. Bleib nicht stehen, mach die Augen zu, wenn du Angst hast. Du kannst auch mit Draco zusammen laufen."
Draco hob seine Augenbrauen und schaute Harry an. Dieser nickte ihm langsam zu, kniff die Augen fest zusammen und gemeinsam liefen die Jungs los. Sie kamen der Wand immer näher; gleich würden sie dagegen knallen, dachte Harry. Aber nichts passierte. Als er die Augen wieder aufmachte, befand er sich nicht mehr zwischen Gleis 9 und 10.
Er war auf Gleis 9 ¾ angelangt. Aufgeregt schaute er zwischen den ganzen Zauberern und Hexen in ihren Umhängen und Spitzenhüten hin und her, sah die verschiedensten Tiere, die in Käfigen mitgenommen wurden und entdeckte auch die rothaarige Familie von eben wieder; das kleine Mädchen hatte aufgehört zu weinen und winkte ihren Brüdern im Zug zu.
Harry hatte auch bemerkt, dass Mrs Malfoy auf dem Gleis 9 ¾ angelangt war und nun Draco umarmte.
„Ganz viel Glück und Spaß, Draco. Du schreibst mir, ja?", sagte sie liebevoll und küsste ihn auf die Stirn, „wir sehen uns dann in den Weihnachtsferien."
Draco, etwas rötlich um die Wangen, wandte sich zu Harry. In seinem Blick lag Verlegenheit.
„Potter? Also, ähm, wenn du nichts dagegen hast kannst du dich zu mir und meinen Freunden ins Abteil setzen. Im Zug, meine ich", sagte er.
Harry konnte es nicht glauben. Er würde nach Hogwarts fahren und er konnte womöglich neue Freunde finden. Durch Dudley hatte er das nie tun können. Schnell nickte Harry und folgte Draco durch das Gewimmel und in den Zug rein.
Er und Draco schleppten ihre Koffer durch den engen Flur und Draco erzählte Harry von seinen Freunden; von Vincent Crabbe und Gregory Goyle und Pansy Parkinson. Schließlich blieb Draco stehen und sagte: „Das sind sie."
Er öffnete die Tür zu dem vollen Abteil. Alle Blicke wandten sich ihm zu und er wurde stürmisch begrüßt. Harry stellte sich etwas in den Hintergrund, er wollte sie echt nicht stören. Schließlich setzten sich alle zurück auf ihre Plätze; so gut wie alle waren besetzt. Draco schaute Harry mit einem fragenden Blick an, als wolle er sagen „Möchtest du hierbleiben?"
Er wollte. Er wollte endlich Freunde kennenlernen, er wollte sich weiter mit Draco unterhalten, da er ihm ziemlich cool vorkam. Aber da wurde Draco auch schon ins Abteil gezogen und die Tür fiel hinter ihm zu und Harry blieb allein.
Als Draco nicht wieder hinauskam, ging Harry, um sich ein freies Abteil zu suchen. Als er so durch den Flur ging, merkte er, dass sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte. Nun waren kaum mehr Schüler im Flur, alle saßen in Abteilen mit ihren Freunden und unterhielten sich und lachten alle zusammen. Harry seufzte trübselig. Vielleicht wollte Draco eigentlich gar nicht mit ihm befreundet sein, dachte er.
Harry wusste nicht, ob es Einbildung war, aber er hatte das Gefühl, dass ihn einige Schüler aus den Kabinen aus anstarrten und dann anfingen mit ihren Freunden zu tuscheln. Harry ignorierte dies; es war bestimmt nur Paranoia.
Schließlich fand er, ganz am Ende des Zuges ein relativ freies Abteil. Gerade stand ein Junge in der Tür. Ständig fuhr er sich hektisch durch seine blonden Haare und schien aufgeregt den Schülern dort drin etwas zu erzählen. Harry tippte ihn an und er schrak zurück.
„Entschuldigung", sagte Harry schnell, „ich wollte nicht..."
„Hast du meine Kröte gesehen? Trevor?", unterbrach er Harry. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er schon zum nächsten Abteil. Harry starrte ihm verblüfft hinterher, wendete aber dann den Blick ab. Er betrat das Abteil und sah, dass ein rothaariger Junge drinsaß. Harry meinte sich zu erinnern, dass er zu der Familie der rothaarigen gehörte, die er vorhin am Bahnsteig gesehen hatte.
„Hi, ist hier frei? Der ganze Zug ist voll...", fragte Harry schüchtern.
„Ja, klar, setz dich", sagte der schlaksige Junge, „ist es auch dein erstes Jahr?"
Harry, erleichtert, nickte. Er versuchte seine Koffer über die Sitze zu verstauen und der rothaarige Junge half ihm dabei.
„Übrigens, ich bin Ron, Ron Weasley", sagte er und schnaubte, während er Harrys Koffer einen heftigen Schubs gab, sodass er endlich stehen blieb.
„Harry Potter", sagte Harry, setze sich erleichtert auf einen freien Platz neben dem Fenster und schloss erleichtert die Augen. Als er sie nach kurzer Zeit wieder öffnete sah er, dass Ron ihn mit offenem Mund anschaute.
„Der Harry Potter?", fragte er atemlos. Harry nickte langsam. Ron wurde plötzlich bewusst, dass es Harry sein Starren unangenehm war und wendete seinen Blick ab. Er setzte sich gegenüber von Harry und schaute aus dem Fenster, wobei sein Blick von Zeit zu Zeit zu Harrys Stirn wanderte. Ein peinliches Schweigen entstand. Harry wurde nun klar, warum die Leute im Zug ihn so angestarrt hatten.
Die Ruhe wurde erst gebrochen, als eine Frau anklopfte und ihnen zu Essen anbot. Harry, der gar nicht gemerkt hatte, wie hungrig er war, sprang auf. Er kaufte von jedem etwas, da er noch nie diese Verschiedenen Süßigkeiten gesehen hatte und kurios war, wonach sie schmeckten.
So langsam brach das Eis zwischen Harry und Ron; die beiden Jungen aßen und lachten zusammen. Ron erklärte Harry den Sinn von Schokofroschkarten und warnte ihn vor Bertie Botts Bohnen. So sehr amüsiert hatte Harry sich noch nie. Ihr Spaß wurde erst unterbrochen, als jemand an die Tür klopfte.
Draco Malfoy steckte seinen Kopf ins Abteil und als er Harry sah, grinste er entschuldigend.
„Tut mir Leid, Potter, wegen vorhin. Dass ich dich allein gelassen hab und so", sagte er aufrichtig. Dann sah er zu Ron und sein Gesicht nahm sofort einen hämischen Ausdruck an.
„Rote Haare, abgetragener Umhang, du musst ein Weasley sein."
Rons Ohren wurden rot und er starrte verbissen aus dem Fenster. Harry gefiel nicht, wie Draco von Ron sprach – aber auch genau das hatte er in Madam Malkins getan. Er hatte über Leute, Leute die Harry mochte, hergezogen.
„Malfoy", fing Harry an. Da er ihn „Potter" nannte, war es wohl okay zu ihm „Malfoy" zu sagen.
„Ähm, Ron ist mein Freund", sagte er und schaute Ron dabei etwas unsicher an, „also, was für Vorurteile du auch immer hast..."
Malfoy schaute Harry nur mit hochgezogenen Augenbrauen an, zuckte dann aber mit den Schultern und sagte: „Wie du willst. Falls du mich brachst, ich bin vorne im Zug."
Er verließ das Abteil. Eine Zeit lang blieb es ruhig, dann öffnete sich die Tür erneut. Ein Mädchen mit buschigen, braunen Haaren und eher großen Vorderzähnen betrat das Abteil. Hinter ihr schluchzte der Junge von vorhin.
„Hallo, habt ihr Nevilles Kröte gesehen? Er sucht sie schon den ganzen Tag", sagte sie in einer monotonen Stimme und schaute ausdruckslos von Ron zu Harry, bei dem ihr Blick hängen blieb. Harry ahnte schon, was kommen würde, und tatsächlich wanderte ihr Blick zu der Blitznarbe auf seiner Stirn.
In ihrem Blick zeigte sich Überraschung, aber sie war nicht so verwundert wie Ron gewesen. „Bist du Harry Potter? Ich hab schon so viel über dich gelesen. Ich bin Hermine Granger", sagte sie, als hätte sie es auswendig gelernt.
Harry nickte und lächelte etwas. Dann fragte er sich, wo sie etwas über ihn gelesen hatte, und was wohl alles da stand.
„Dann gehen wir mal", sagte sie, drehte sich um und schubste Neville aus dem Abteil. Ron und Harry schauten sich einen Augenblick an, dann brachen sie in Lachen aus. Harry wusste nicht genau wieso, aber es tat gut. Als sie sich beruhigten, fragte Ron: „Bin ich wirklich dein Freund?"
„Sicher", antwortete Harry. Er selbst fühlte die Erleichterung, die sich gerade in Rons Gesicht abzeichnete. Er konnte ein neues Leben, ohne die Dursleys und sogar mit einem neuen Freund unbeschwert beginnen.
Nun ja, vielleicht nicht ganz unbeschwert. Er dachte noch eine lange Zeit über Draco nach.
YOU ARE READING
What if? A different Harry Potter Story
FanfictionWas wäre, wenn Charaktere eben nicht so sind, wie sie sind? Wenn sie ganz andere Dinge tun und sagen würden, wenn sie ganz andere Entscheidungen treffen würden? Was aber, wenn ein einziger Schicksalsschlag die ganze Geschichte auf den Kopf stellt? I...