Die Woche verstrich ohne besondere Vorkommnisse. Morgens verließ Vivien das Haus,um zur Arbeit zu fahren, abends kehrte sie wieder heim. Ihrer Nachbarin begegnete sie dabei nicht. Vivien redete sich bereits ein, dass das gemeinsame Kuchenessen doch eine einmalige Angelegenheit bleiben würde. Dennoch wusste sie, als am Samstag die Klingel ertönte, genau, wer es war. Sie stellte sich taub. Früher oder später würde die Nachbarin schon wieder gehen, dachte sie sich. Doch damit lag sie falsch. Nachdem die Klingel verstummt war, wurde plötzlich an die Tür geklopft und sie hörte Frau Bachs, leicht verärgerte Stimme: „Kommen Sie schon Frau Nagel. Machen Sie doch auf! Ich will Sie doch nur um einen kleinen Gefallen bitten. Ich weiß, dass sie zu Hause sind!"Resigniert schnappte sich Vivien ein Paket Zucker und ging zur Tür. Sie öffnete diese schwunghaft und hielt ihrer Nachbarin den Zucker entgegen. Diese sah sie verdutzt an. „Brauchen Sie diesmal keinen Zucker?", fragte Vivien mürrisch. Als Frau Bach immer noch keine Regung zeigte, seufzte Vivien. „Tut mir leid. Wie kann ich Ihnen helfen?" Die alte Frau schien sich wieder zu fangen und hielt der Jüngeren ein Smartphone hin. „Mein Enkel hat mir das zum Geburtstag geschenkt", sagte sie. Vivien musste unwillkürlich lächeln. „Ehrlich?", fragte sie, „Sie haben ein Smartphone?" „Man muss mit der Zeit gehen", antwortete Frau Bach etwas beleidigt. „Glauben Sie, ich kann damit nicht umgehen? Ich mag vielleicht alt sein, aber nicht altmodisch". Vivien nickte. „OK, trotzdem, wie kann ich Ihnen helfen?" „Achso. Ja. Also, ich denke, ich kann zwar ungefähr mit so einem Gerät umgehen, aber ich muss es halt trotzdem erst einmal lernen. Mein Enkel hat mir dieses... diese Applikation runtergeladen, wo man sich gegenseitig schreiben kann und Bilder schicken und so. Ich wollte ihm gerne ein Bild schicken, das ich gemacht habe. Aber das kriege ich nicht hin." Vivien nahm das Handy ihrer Nachbarin entgegen und scrollte durch die Kontakte. „Wie heißt Ihr Enkel?", fragte sie. Viele Kontakte waren eh nicht vorhanden. „Sebastian", antwortete Frau Bach. Vivien prustete los. „Ist das Ihr Ernst? Er heißt Sebastian Bach? Wieso nicht gleich Johann Sebastian?" Frau Bach schien das nicht wirklich komisch zu finden. Trocken bemerkte sie: „Seine Schwester wurde zuerst geboren. Sie heißt Johanna. Johanna und Johann schienen seine Eltern dann doch für zu viel des Guten zu halten". „Schon gut", murmelte Vivien stirnrunzelnd. Sie wollte sich da nicht weiter einmischen, die Angelegenheiten dieser Familie gingen sie ja nun wirklich nichts an. Aber die Kinder Johanna und Sebastian zu benennen, fand sie doch etwas ungewöhnlich. Ruhig zeigte sie ihrer Nachbarin, wie man Bilder mit dem Smartphone versenden konnte. Diese bedankte sich, blieb aber mal wieder in der Tür stehen. „Noch etwas?", fragte Vivien. „Hatten Sie nicht mal Katzen?", fragte die Frau. Vivien starrte sie entgeistert an. „Hatte", antwortete sie kühl, „ja". „Was ist mit ihnen passiert?", kam die Rückfrage. „Ich glaube, das hat Sie verdammt noch mal nicht zu interessieren!" Für einen Augenblick herrschte Stille. „Was ist eigentlich Ihr gottverdammtes Problem?", fragte Frau Bach schließlich. Nun entglitten Viviens Gesichtszüge endgültig. „Ich habe kein gottverdammtes Problem", zischte sie und schloss die Tür. Durch die Tür hörte sie, dass Frau Bach noch eine Frage hinterher schob: „Und warum reagieren Sie dann immer so völlig übertrieben und abweisend, sobald man nett zu Ihnen sein möchte oder Ihnen eine persönliche Frage stellt?" Darauf reagierte Vivien nicht mehr.
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Wie Vivien
General FictionVivien ist eine Meisterin darin, immer eine gewisse Distanz zu ihren Mitmenschen zu wahren. Sie hat Angst davor, verletzt zu werden und möchte auch selber andere Menschen nicht verletzen. Normalerweise funktioniert das ganz gut. Nur Ida, ihre über...