„Ist das die Serie, die Sebastian nicht mit dir gucken darf?", fragte Vivien. Sie hatte in den vergangenen Tagen jeweils kurz nach der Arbeit bei Ida vorbeigeschaut, meist hatten sie eine Tasse Kaffee getrunken und dann war Vivien wieder in ihre eigene Wohnung gegangen. An diesem Tag war es bei Vivien etwas später geworden und Ida saß gerade vor dem Fernseher, als sie kam. „Natürlich darf er sie mit mir gucken", entgegnete die alte Frau. „Achja? Ich dachte, du hättest ihn rausgeschmissen." „Ja, weil er nicht seinen Mund halten konnte. Pass auf, sonst geschieht mit dir gleich dasselbe." Vivien musste grinsen, schaute aber ein paar Minuten schweigend mit Ida auf den Bildschirm. Irgendwann konnte sie sich aber nicht mehr zurückhalten und sie sagte: „Sebastian hatte recht, die Schauspieler sind wirklich ziemlich schlecht. Und die Handlung erst. Also, ich habe jetzt drei Minuten zugeschaut und kann dir gleich sagen, dass der schmierige Typ mit dem aufgeknöpften Hemd seine Frau betrügt und ein Verhältnis mit der Arzthelferin hat. Und die ist schwanger von ihm, weiß es nur noch nicht. Aber ist doch klar, warum würde sie sonst ständig zum Kotzen aufs Klo rennen? Wie unrealistisch ist das denn bitte? Also, im wahren Leben würde die doch irgendwann selbst schnallen, dass sie schwanger ist... So blöd kann man doch gar nicht sein." Ida sah sie aufgebracht an. „Raus", befahl sie. „Aber auf der Stelle!" Kichernd erhob Vivien sich. „Gut", sagte sie. „Ich gehe dann mal ein paar Löcher in meine Wand bohren." Ida hob drohend die Hand und Vivien beeilte sich, aus der Wohnung zu kommen.
Es war Freitag. Endlich Wochenende. Vivien hatte zwar keine Pläne, aber das war ihr auch ganz recht so. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Ihr Leben war in den vergangenen Wochen etwas durcheinander geraten und sie musste sich überlegen, wie sie damit umgehen sollte. Es war zu spät, um Ida wieder aus ihrem Leben zu verbannen, das war ihr klar. Und selbst, wenn sie es gewollt hätte, hätte sie nicht gewusst, wie. Bei Sebastian mochte das eventuell noch funktionieren, hoffte sie. Zwar würde sie ihm sicherlich noch begegnen, aber sie würde aufpassen, ihn zukünftig weder physisch noch psychisch zu nah an sich herankommen zu lassen. Sie würde ihn nicht mehr alleine zu sich in die Wohnung einladen. Dass sie eine Nacht miteinander verbracht hatten, damit würde sie umgehen können. Eine Nacht war schließlich fast keine. Solange es dabei bleiben würde, gab es eigentlich keinen Grund zur Sorge. Aber Ida... Was für Schlüsse sollte sie aus diesem freundschaftlichen Verhältnis zu ihr ziehen? Da sie es offensichtlich nicht mehr schaffte, sich selbst und ihren Prinzipien zu 100% treu zu sein, stellte sich die Frage, ob sie sich möglicherweise grundsätzlich für Freundschaften öffnen sollte. Oder war es doch besser, wenn Ida die einzige Ausnahme blieb? Wenn sie mit Ida nun ihre Prinzipien über Bord werfen würde, dann würde das ja auch bedeuten, dass sie zu Sebastian eine freundschaftliche Beziehung eingehen könnte. Dann gäbe es auch keinen Grund mehr, ihn so auf Distanz zu halten. Viviens Blick blieb kurz an dem Zettel hängen, auf dem Sebastian seine Handynummer notiert hatte und der seitdem unbeachtet auf dem Tisch lag. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, ihm zu schreiben, ließ es dann aber doch bleiben. Sie wollte nicht zu voreilig sein. Allerdings musste sie unwillkürlich lächeln bei dem Gedanken daran, mit Sebastian Nachrichten hin und herzuschicken. Als sie sich bei diesem Lächeln ertappte, runzelte sie die Stirn. Was war los mit ihr? Sie würde doch wohl keine Gefühle für ihn entwickeln? Sie wusste doch gar nicht mehr, wie das überhaupt ging, Gefühle für einen Mann zu entwickeln, sich zu verlieben... Sie würde aufpassen müssen. Freundschaften evtl. zuzulassen war eine Sache, eine Liebesbeziehung wiederum eine ganz andere. Falls sie tatsächlich wagen würde, ihr derzeitiges Leben zu ändern, dann am besten trotzdem Schritt für Schritt. Nichts überstürzen. Und schon gar nicht mit Sebastian. Was sollte der denn schließlich mit einer Frau wie ihr? Er würde sie sicherlich schnell langweilig finden, was sie ja auch war. Früher oder später würde er sie fallen lassen. Ganz sicher. Er brauchte sie nicht. Niemand brauchte sie. Ob sie da war oder nicht, das machte keinen Unterschied. Würde es außer Ida überhaupt irgendjemand bemerken, wenn sie einfach verschwinden würde? Vivien lag im Bett und versuchte einzuschlafen, aber sie wurde diesen einen Gedanken nicht los. Gab es auch nur eine Person auf dieser Welt, der sie fehlen würde, wenn sie nicht mehr da wäre? Sie fing an zu weinen, da sie sich so bedeutungslos fühlte und wünschte, irgendjemand wäre da, um sie zu trösten oder dass sie wenigstens irgendwen anrufen könnte. Sie wünschte sich jemanden, der ihr zuhörte.
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Wie Vivien
General FictionVivien ist eine Meisterin darin, immer eine gewisse Distanz zu ihren Mitmenschen zu wahren. Sie hat Angst davor, verletzt zu werden und möchte auch selber andere Menschen nicht verletzen. Normalerweise funktioniert das ganz gut. Nur Ida, ihre über...