Wir sind fast zwei Stunden unterwegs und das nicht, weil der Weg so weit ist, sondern weil Lydia ständig pinkeln muss, Henry den Motor viermal abwürgt und wir uns anschließend auch noch verfahren.
Wir sind natürlich die letzten, die an der Küste ankommen.
Ich dachte, wir würden vielleicht immer noch ein Stück zum Strand laufen müssen, aber so wie es aussieht, hatte ich mich geirrt, denn wir stehen direkt vor einem Haus, das vielleicht 30-40 Meter vom Wasser entfernt ist. Ich habe nie viel vom Meer gehalten, aber ich muss schon zugeben, dass das Ganze total beruhigend und idyllisch auf mich wirkt.„Da seid ihr ja, wir dachten schon, ihr schlagt hier gar nicht mehr auf!", ruft May uns zu und kommt in einem weinroten Bikini angelaufen, welcher sich gut von ihrer hellen Haut abhebt.
Nachdem wir ihr schildern, wie oft wir uns verfahren haben, beschreibt Henry ihr, wo er sein Auto geparkt hat und ob es da sicher sei. Lydia und ich schleppen währenddessen unsere Sachen ins Haus. Beim Betreten finden wir uns in einem großen Raum mit einer großen weißen Stoffcouch und zwei beigen Zweisitzern wieder, die so ausgerichtet sind, dass man zu einem riesigen Fernseher schauen kann, unter dem sich ein stattlicher Kamin befindet.
Weiter hinten glänzt eine große, offene und moderne Küche, die auch ganz in weiß gehalten ist. Am anderen Ende des Raumes befindet sich eine Tür, hinter der ich ein Badezimmer vermute.
In der Mittel des Raumes führt eine Wendeltreppe nach oben. Ich stöhne auf. Zum Glück habe ich nicht so viel Zeug mitgenommen, das ich jetzt hochschleppen muss, im Gegensatz zu Lydia, die nach wenigen Stufen bereits keucht. Oben angekommen befinden wir uns in einem Vorraum, von dem 3 Türen abgehen. Eine geradezu, eine links und eine rechts. Neben der rechten Tür befindet sich eine große Glasfront, hinter der ein Wintergarten liegt. Ich bin im Himmel. Ehrgeizig steuere ich auf die rechte Tür zu, in der Hoffnung, dass man von dem Zimmer Zugang zum Wintergarten hat. Als ich die Tür aufstoße werde ich enttäuscht. Kein Zugang. Außerdem stapeln sich auf einem der Betten schon Klamotten. Ich erkenne Amys rosa Nike-Turnschuhe."Lydia, wir müssen ein anderes Zimmer nehmen, hier hat Amy sich niedergelassen.", seufze ich und schaue durch die offene Tür des Raumes ganz links. Lydia sitzt auf einem Bett und packt gemütlich ihre Sachen aus. vor dem Wandschrank steht Mays Koffer.
"Ist das dein Ernst?", frage ich ungläubig. Das kann ja wohl echt nicht wahr sein. Meine beste Freundin lässt mich im Stich.
"Hör mal Olivia, offensichtlich haben die Anderen kein Zimmer freigelassen, in das wir beiden dann zusammen können. Und es wäre doch total affig, wenn wir jetzt irgendwen fragen, ob er das Zimmer wechselt. Außerdem kann May Amy nicht so leiden. Das wüsstest du, wenn du das Buch gelesen hättest. Ist dann nur logisch, dass die beiden nicht auf ein Zimmer gehen."
"Und wenn sie sie nicht leiden kann, warum läd sie sie dann hier ein?"
Lydia zuckt mit den Schultern: "Will die Clique wahrscheinlich nicht kaputt machen. Keine Ahnung, die Abneigung wird nie näher geklärt."
„Ich kann auch einfach erzählen, dass ich beim Schlafen Händchen halten muss, weil ich sonst Alpträume habe und dafür brauche ich dich. Dann Amy bestimmt nicht das Zimmer mit mir teilen."
„Man, nutz' doch mal die Gelegenheit, dich mit den Anderen anzufreunden. Die sind wirklich nett."
„Ja. Richtig. Sie sind nett und sie existieren eigentlich gar nicht. Mit imaginären Freunden bin ich seit der Grundschule durch."
„Ah, genau, deshalb hängst du auch so viel mit Henry rum."
Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Blöde Kuh. Lydia lächelt selbstgefällig.
„Wenn Du Henry eine Chance gegeben hast, dann tu es bei den Anderen einfach auch. Und jetzt bring deine Sachen aufs Zimmer."
„Ja Mama.", verdrehe ich die Augen, verlasse den Raum und schließe die Tür hinter mir.
Lydia denkt wahrscheinlich, dass ich sauer bin, aber ehrlich gesagt fühle ich mich ziemlich einsam. Alle Leute um mich herum sind... erfunden. Sie sind nicht real, nur Fantasien. Und jetzt hat meine einzige echte Ansprechpartnerin keinen Bock auf mich und gibt sich lieber mit den imaginären ab.
Oh man, hätte mir jemand vor einiger Zeit erzählt, dass ich mal solche Probleme haben würde, hätte ich ihn ausgelacht.
Frustriert gehe ich in das Zimmer, in welches Amy sich schon niedergelassen hat, und lasse mich auf mein Bett fallen. Zu mindestens ist die Matratze ziemlich weich und bequem. Ein paar ruhige Minuten später wird die Tür aufgerissen und Henry steht im Rahmen.„Besetzt.", raune ich genervt, stütze mich auf die Unterarme und funkele ihn böse an.
Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass er mich frech angrinst und mir irgendeinen Spruch drückt, aber das passiert nicht. Stattdessen schaut er in die Richtung meiner Beine, wendet den Blick blitzschnell wieder ab, wird rot, murmelt irgendwas Unverständliches und schließt die Tür blitzartig. Bevor ich Zeit habe, mich darüber zu wundern, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. So wie ich gerade daliege, biete ich jedem der reinkommt, ob er will oder nicht, einen perfekten Blick zwischen meine Beine und somit unter mein Kleid auf meinen Slip.„Fuck.", sage ich, schlage die Hände vors Gesicht zusammen und lasse mich wieder in die Matratze plumpsen.
***
Als ich mein Schamgefühl zu genüge verdrängt habe, laufe ich die Treppe nach unten und verlasse, weil ich niemanden antreffe, das Haus. Alle Anderen sitzen ungefähr 20 Meter vom Haus entfernt auf Decken und Handtüchern. Als ich näher komme kann ich erkennen, dass Amy und Lydia sich sonnen, während May Henry und Louis hilft, den Camping Grill vorzubereiten. Wobei Louis abgelenkt wirkt. Er scheint damit beschäftigt zu sein, Amy in Bikini anzugaffen. Leider kann man ihm das nicht verübeln. Sie hat die absolut perfekte Figur. Sowas hab ich in der Realität noch nie gesehen. Super gemacht Liane, und dann wundert sich die Gesellschaft, warum die jungen Mädchen alle Komplexe bekommen. Hätte die Hauptperson nicht eine stinknormale Figur haben können? Hätte sie nicht generell ein wenig normaler aussehen können? Muss sie alle um sich herum in Schatten stellen? Zum Kotzen.
Falls Henry das Ganze von vorhin noch peinlich ist, merkt man ihm das nicht mehr an. Als er mich sieht fängt er an zu grinsen und deutet auf die Decke neben sich, auf die ich mich fallen lasse.„Wie lange brauchen wir mit dem Grill?", frage ich und ziehe eine Augenbraue hoch.
„Kann sich nur um Stunden handeln.", seufzt May und legt sich zu Lydia und Amy. Scheinbar erwartet sie, dass ich das jetzt übernehme. Wow, danke.
„Okay, das Ding läuft. Kannst du das Fleisch von drinnen holen, Olivia?", Louis sieht mich fragend an. Sein Blick ist merkwürdig. Irgendwie total unsympathisch, als würde er mich umbringen, wenn ich nein sage.
Mein „mach es doch selbst" schlucke ich herunter und erhebe mich schweigend.
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich glaube, dass Henry Louis irgendwas zu zischt, als ich ein Stück entfernt bin.
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Between The Lines #Wattys2018
Romance⠀ ⠀ ⠀ ⠀ ⠀ ⠀ ⠀-SLOW UPDATES- »Du bist wie ein Hurrikan, weißt du? Bei denen, die dich nicht richtig kennenlernen, hinterlässt du Verwüstung, und die, die dich wirklich kennen, dringen bis ins Auge hervor und dort ist es windstill.« ⠀ ⠀ ⠀ ⠀ ⠀ ⠀...