V I E R

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"NEVER MIND I'LL FIND SOMEONE LIKE YOUUUUUUUU."

Ich schlage die Augen ruckartig auf und starre an die niedrige Decke. Aus dem Flur dröhnt Musik. Und ich höre Liane schreien:

"AUFSTEHEN, MÄDCHEN!", die Musik wird leiser. Sie scheint an meiner Tür vorbei zu sein. Es gibt definitiv sanftere Arten jemanden zu wecken. Ich bekomme immer mehr Hass auf diese Frau.
Am liebsten würde ich einfach im Bett liegen bleiben, nur um sie zu ärgern. Aber ich kann nur rausfinden, wie ich hier wieder wegkomme, wenn ich mich dem Willen dieser alten Schachtel füge.
Ich springe also aus dem Bett, öffne den Kleiderschrank und entscheide mich für ein graues Kleid mit Fledermausärmeln und eine fast transparente schwarze Strumpfhose. Ich watschele ins Bad, wasche mein Gesicht und kämme mein brustlanges, rosa Haar. Da es heute liegt beschließe ich, es offen zu tragen.
Ich gehe wieder in mein Zimmer und suche die Schubladen nach Schminke ab. Ich finde genau dieselben Produkte, die ich Zuhause habe.
Ich trage unauffälligen Lidschatten auf, konturiere und highlighte mein Gesicht ganz leicht und lächle dann zufrieden mein Spiegelbild an. Als letztes trage ich eine nudefarbene Lipcream auf und laufe nach unten in die Küche.
Lydia sitzt bereits am Tisch und löffelt Cornflakes. Sie ist zurechtgemacht, als würde sie feiern gehen wollen.

"Warum siehst du aus wie ne Nutte?", frage ich und lasse mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen.

Erschrocken lässt sie dem Löffel fallen und fässt sich ins Gesicht.

"Zu viel?"

"Kaum."

Ich nehme mir Cornflakes und Milch und ignoriere den vorwurfsvollen Blick meine Freundin. Sie labert mich zu, wie aufgeregt sie doch ist, die ganzen Buchcharaktere zu treffen und ich versuche, eine gute Freundin zu sein und nicht die Augen zu verdrehen, aber es gelingt mir nicht.

"So Mädels, seid ihr fertig? Ich fahre euch heute, ab morgen fahrt ihr mit dem Bus."

"Wie gütig.", murmele ich und erhebe mich. Ich denke nicht daran, das Geschirr wegzuräumen, aber Lydia stellt natürlich fein säuberlich alles in die Abwäsche.
Wir gehen in den Flur und sehen uns erwartungsvoll an, als wir den großen Schuhschrank erblicken. Zusammen öffnen wir ihn und zeitgleich klappt uns der Mund auf. Unmengen an Schuhen sind ordentlich nebeneinander einsortiert. Wir wissen genau, welche wem gehören. Eine Seite ist voller mädchenhafter Schuhe und viele hohe sind dabei. Auf der anderen Seite stehen Turnschuhe und die verschiedensten Doc Martens in unterschiedlichen Farben und Formen. Wir sind im Himmel.
Lydia krallt sich hohe Sandalen, während ich das neue Vans-Modell aus dem Schrank ziehe, welches zu schön ist, dass ich unsere missliche Lage fast vergesse. Mir entgeht nicht, dass Liane uns zufrieden beobachtet, also versuche ich so schnell wie möglich unbeeindruckt zu schauen.
Wir verlassen das Haus und steigen in Lianes kleinen Wagen. Keine Ahnung, was es für ein Auto ist, ich kenne mich damit überhaupt nicht aus. Sieht auf jeden Fall in Ordnung aus.
Es riecht nach Vanille-Duftbäumchen und ich mache das Fenster hinunter, um nicht zu kotzen.
Lydia zittert vor Aufregung, starrt die ganze Fahrt über aus dem Fenster und stellt Liane Fragen zu bestimmten Orten. Mich interessiert das einen Scheiß-Dreck, ich will einfach nur rausfinden, wie ich hier wieder wegkomme.
Nach guten 20 Minuten halten wir vor einer Highschool wie sie im Bilderbuch steht.
Großes modernes Schulgebäude, Schullogo, Flaggen, riesiger Schulhof mit großer Grünfläche, ein wunderschöner gepflegter Sportplatz und - das darf in so einem Buch natürlich nicht fehlen - unglaublich gut aussehende Schüler.

"Gibt es hier auch hässliche Menschen?", murmele ich genervt.

"Schönheit liegt im Auge des Betrachters.", sagt Liane und lächelt dabei.

Ich verdrehe die Augen, steige aus dem Wagen und knalle die Tür zu. Genervt warte ich auf Lydia, die Liane noch vollzuschwafeln scheint. Schließlich steigt auch sie aus und wir gehen auf das Schulgebäude zu.
Die ganzen Models um uns herum starren uns an. Wie unrealistisch, sowas gibt's nur in Filmen - und natürlich in Kitsch-Romanen.
Einen Moment später fängt das Getuschel an: "Sind das die Neuen? Wie findest du sie? Tolle Schuhe!", Lydia scheint sich richtig im Rampenlicht zu sonnen, ich hingegen starre stur geradeaus und versuche niemanden anzusehen.
Nach einiger Suche finden wir das Sekretariat und klopfen an. Eine tiefe Stimme bittet uns herein.
Am Schreibtisch sitzt eine hochgewachsene kurzhaarige Frau um die 40. Sie würdigt uns nicht eines Blickes.
Lydia räuspert sich und sagt: "Entschuldigen Sie, wir sind neu und wollen unsere Stundenpläne abholen."
Erst denke ich, die Frau hat sie nicht gehört, doch dann hebt sie langsam den Blick und fragt: "Namen?"

"Lydia Fitzgerald und Olivia Kingston."

Die Frau tippt etwas in ihren Computer ein. Lydia lehnt sich ein Stück zu mir herunter und flüstert: "Das ist Ms Birningham, unverheiratet und bekannt für ihre schlechte Laune. In der Mitte des Buchs...-"

"So, hier sind eure Pläne und die Kombinationen für eure Schließfächer. Eure Bücher bekommt ihr in den einzelnen Kursen von den Lehrern. Wenn ihr die Räume nicht findet dann fragt jemanden.", damit wendet sie sich ab und füllt irgendwelche Formulare aus. Wie freundlich.
Lydia und ich verlassen das Sekretariat und stehen verloren auf dem Schulflur. Ein paar Schüler starren uns an, andere sind in Gespräche verwickelt.

"Unsere Schließfächer müssten dort drüben sein.", meint Lydia und deutet nach rechts in den Gang. Wir gehen ein Stück und finden unsere Fächer schließlich. Meins liegt genau gegenüber von Lydias. Ich öffne meines nur um zu testen, ob die Kombination funktioniert und schließe es dann wieder. Dann gehe ich zu Lydia.

"Ich hab jetzt Englische Literatur. Du auch?", fragt sie mich.

Ich sehe auf meinen Plan und nicke.
Das mit den Räumen hier ist nicht sonderlich kompliziert, aber Lydia erzählt mir, die Hauptfigur des Buchs hätte sich am ersten Tag hier verlaufen. Ich frage mich, wie dumm dieses Mädchen wohl ist.
Wir betreten den Klassenraum und alle Blicke liegen urplötzlich auf uns. Einige Sekunden später nehmen alle ihre Gespräche wieder auf.
Lydia und ich setzen uns an eine freie Bank, packen unsere Sachen aus und sehen erwartungsvoll in die Runde. Ich muss schon sagen, dass es ein wenig strange ist, von Leuten umgeben zu sein, die gar nicht existieren.

"Guten Morgen, Kinder!", ertönt eine freundliche Stimme. Ein Mann, vielleicht Mitte 50, strahlt uns an und stellt seine Lehrertasche ab.

"Wenn ich richtig liege, müssten wir ab heute drei neue Schülerinnen haben.", er sieht sich kurz um, "Ah, da sehe ich ja schon zwei neue Gesichter. Stellt euch doch erstmal vor."

Lydia beginnt: "Also ich bin Lydia, 18 Jahre alt und ähm... Ich lese sehr gerne."

Unauffällig sehe ich mich um. Den Jungs im Kurs scheint Lydia zu gefallen. Kein Wunder, sie ist wirklich hübsch, passt perfekt hier rein. Viele Mädchen gucken freundlich, doch einige sehen gar nicht begeistert aus. Wahrscheinlich ist Lydia in ihren Augen eine potenzielle Konkurrentin.

"Und Sie?", der Lehrer sieht mich aus freundlichen Augen an.

" Ich bin Olivia, auch 18 und na ja. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen."

"Dann will ich mich auch mal vorstellen. Ich bin Mr Byrnes. Aber ich wundere mich, wo unsere dritte neue Schülerin bleibt. Amy Millen?"

Einen Moment später wird die Tür aufgerissen und ein Mädchen stürmt herein. Ich überlege einen Moment lang lesbisch zu werden, denn sie ist das hübscheste weibliche Geschöpf, das ich je gesehen habe.

Between The Lines #Wattys2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt