D R E I Z E H N

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Als ich wach werde, spüre ich die warme Sonne, die mir durchs Fenster ins Gesicht scheint. Ich lächele, lasse die Augen noch geschlossen und genieße die Wärme.
Die Vögel zwitschern hörbar, aber nicht aufdringlich. Mit noch immer geschlossenen Augen drehe ich mich auf die andere Seite und kuschele mich ein. Dabei spüre ich ein leichtes Gewicht auf mir. Deshalb öffne ich dann doch langsam die Augen und erblicke als erstes nur wenige Zentimeter vor mir Henrys zerknautschtes Gesicht.
Ich erschrecke mich so sehr, dass mir nur ein lautes „Oh Gott." entfährt, bevor ich beim Versuch, Abstand zu gewinnen, lautstark aus dem Bett falle und dabei ungünstig auf dem Po lande.

„Was? Was ist passiert?! Livvy?!", Henry sitzt plötzlich aufrecht im Bett. Wahrscheinlich ist er durch mein Gepolter wach geworden.

„Dir auch einen guten Morgen.", knurre ich und reibe mir noch auf dem Boden das Hinterteil, bevor ich mich erhebe und wieder aufs Bett krabbele.
Henry greift nach seiner Brille, setzt sie auf, streckt sich ausgiebig und sieht mich dann an.

„Sag mal, bist du gerade aus dem Bett gefallen?"

„Sei leise."

„Konntest du mit so viel Schönheit am Morgen nicht umgehen?"

Ich schlage ihn mit meinem Kissen. Mir kommt die vergangene Nacht plötzlich unglaublich intim vor. Vor allem, weil Henrys Arm scheinbar die ganz Nacht um mich geschlungen war. Aber seine lockere Reaktion auf das Ganze beweist wohl nur, dass unsere Freundschaft sich auf dem höchsten Level befindet, und dass sowas für beide Seiten nichts zu bedeuten hat. Fühlt sich eigentlich ganz gut an, zu wissen, dass ich in Henry einen Freund gefunden habe, bei dem ich mir keine Sorgen machen muss, dass er eventuell mal was bei mir versucht.

„Wie spät ist es eigentlich?", will Henry wissen, während er es sich wieder im Bett bequem macht.

Daraufhin greife ich nach meinem Handy, um auf die Uhr zu sehen.

„Erst kurz nach 10. Ich hab' irgendwie gedacht, dass wir länger geschlafen haben."

„Wirklich? Also mir kam diese Nacht viel zu kurz vor.", erwidert Henry und wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, woraufhin ich ihn erneut mit meinem Kissen schlage.

Erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass wir alleine im Raum sind.

„Amy ist wohl immer noch nicht von ihrem nächtlichen Ausflug zurück.", stelle ich laut fest.

Henry zuckt nur mit den Schultern: „Würde mich nicht wundern, sie gleich in meinem Zimmer bei Louis vorzufinden."

„Nicht?"

„Warum denn nicht, die beiden haben Chemie, das ist doch offensichtlich. Ist nur eine Frage der Zeit, bis sie was miteinander anfangen."

„Chemie nennst du das? Sie sitzen bloß rum und starren sich gegenseitig an, bis es schon fast gruselig ist. Ich würde das nicht als Chemie bezeichnen."

„Was ist Chemie denn in deinen Augen?"

„Keine Ahnung, man kann sich immer und überall über jedes Thema unterhalten, weil es einfach passt. Es gibt nichts Schöneres, als Zeit mit dem Anderem zu verbringen, weil man sich einfach wohlfühlt bei der Person. Sowas in die Richtung. Aber nicht dieses Oh, wir finden uns gegenseitig total heiß, also werden wir etwas miteinander anfangen, scheiß' auf innere Werte."

Henry antwortet nicht, grinst aber.

„Ich denke, ich sollte langsam rüber, Livvy. Mal schauen, was ich in meinem Zimmer vorfinde.", er verzieht das Gesicht. „Danke für die wunderschöne Nacht.", fügt er noch hinzu, während er aufsteht und mir an der Tür seinen allerstärksten Pedo-Blick zuwirft. Dann verlässt er den Raum.
Ich seufze und muss wegen seiner Anspielung grinsen. Als ich mich gerade entspannt zurücklehnen will, wird meine Zimmertür aufgerissen und eine aufgeregte Lydia kommt auf mich zugestürmt.

„Oh. Mein. Gott. Olivia! Wieso zur Hölle habe ich gerade Henry freudestrahlend aus deinem Zimmer kommen sehen? Du kannst doch nicht einfach jemanden abschleppen, ohne mir davon zu erzählen! Und dann auch noch Henry. Ich dachte, du krallst dir wenigstens einen von den Footballspiel-"

„Lydia, stop! Wir haben nur geschlafen."

„Ihr habt miteinander geschlafen?!?"

„Nein verdammt, nebeneinander, als Freunde, weil wir beim Netflix schauen eingeschlafen sind."

„Ja ja, wieso war Henry denn überhaupt bei dir im Zimmer?", sie glaubt mir nicht, klasse.

„Ich dachte, du kennst dieses Buch so wahnsinnig gut. Weil Amy die dumme Nuss sich mit Louis davonmacht und sowohl Henry als auch ich somit alleine waren und gern etwas Gesellschaft wollten."

„Genau, weil du ja so social bist."

„Lydia!", verzweifelt schlage ich die Hände vors Gesicht.

„Schon gut, schon gut. Ich glaube dir. Habt ihr wenigstens gekuschelt?"

„Ly-di-a!!!"

„Ich hör ja schon auf. Jetzt zieh dich an, ich hab' Frühstück für alle vorbereitet."

„Lydia, die Hausfrau. Du bist so eine verdammte Schleimerin, weißt du das? Wen willst du damit beeindrucken?"

„Natürlich Louis! Warte erstmal ab, bis er sieht, dass ich nicht nur eine attraktive Blondine bin, sondern auch noch was kann."

„Ja, es wird ihn sicherlich umhauen zu sehen, dass du einen Tisch decken kannst." Daraufhin funkelt sie mich finster an. Schließlich zwingt sie mich, aufzustehen und bewirft mich mit Klamotten, die ich anziehen soll.
Schließlich schlüpfe ich in ein beiges Sommerkleid im Boho-Style, wozu ich einfach nur bequeme Sandalen kombiniere. So heiß wie es allein hier im Raum ist, muss die Luft draußen stillstehen, also will ich so wenig anhaben, wie möglich.
Mit meiner Wasch-und Schminktasche stolpere ich ins Bad und mache mich frisch, während Lydia die Anderen zum Frühstück holt. Als ich an den Tisch komme, sitzen alle schon und ich muss sagen, meine beste Freundin hat sich wirklich Mühe gegeben. Es gibt Brötchen mit süßen aber auch mit deftigen Belägen. Zudem hat sie Pancakes, aber auch Ei und Bacon gebraten. Um das Ganze abzurunden stehen Tee, Kaffee, Orangensaft und Kakao auf dem Tisch.
Die Anderen haben natürlich schon mit dem Essen angefangen, sehr höflich, wow.

„Na Livvy, fertig mit schick machen?", neckt Henry mich und trinkt seinen Orangensaft.

Ich stecke ihm nur die Zunge raus und nehme mir ein Brötchen, das ich großzügig mit Käse belege. Nebenbei sehe ich mich um. May lächelt mir schüchtern zu, als sei ihr der kleine Zusammenbruch vor mir ein bisschen peinlich. Lydia labert Louis total dicht, wobei mir auffällt, dass Amy und er zwar nebeneinander sitzen, aber einen großen Abstand voneinander haben. Wer weiß, was da letzte Nacht vorgefallen ist.

„Was haltet ihr von einem Ausflug in die Innenstadt? Ist nicht sehr groß, halt so ein richtiger Touri-Ort, aber wir könnten ja Eis essen und ein wenig bummeln.",höre ich May fragen, als ich mit den Gedanken wieder zum Tischgespräch zurückkehre.
Alle, einschließlich mir, stimmen zu, genießen weiterhin ihr Frühstück und quatschen über irgendwelche vergangenen Partys und wer es mit wem getrieben hat.
Danach räumen wir zusammen ab und holen unsere Sachen aus den Zimmern. Wir haben beschlossen, wieder die Autos zunehmen, da die Busverbindung hier im Nirgendwo wohl nicht die Beste ist.
Also gehe ich mit Lydia und Henry zu seinem Auto, in welchem wir aufgrund der Hitze fast ersticken. Die Klimaanlage lassen wir aus, da sie die warme Luft nur zu verteilen scheint. Also kurbeln wir die Fenster hinunter und fahren los. Aus den Lautsprechern dröhnt Wonderwall von Oasis und ich schließe die Augen, um Musik und Fahrtwind zu genießen. Auf meinen Schenkeln klopfe ich den Takt des Songs mit.
Jetzt gerade in diesem Moment fühle ich mich wirklich lebendig und echt. Daran, dass ich in einem Buch gefangen bin, denke ich nicht einmal.

Between The Lines #Wattys2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt