Julian:
Als wir wieder aufbrachen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und vertrieb die kalte Morgenluft soweit, dass wir bereit waren, ohne das wärmende Feuer loszuziehen. Wir wanderten etwa eine Stunde an einer halbwegs belebten Landstraße entlangang, bis wir von weitem die Häuser eines Dorfes erkennen konnten. "Meinst du, wir können dort eine Rast machen? Vielleicht können wir etwas zu Essen finden..." Leonas Stimme klang müde und erschöpft, doch ich hörte auch ein wenig Hoffnung heraus. Wie ich hatte sie es satt, sich nur von Obst (wenn wir essbares Obst fanden!) und Eichhörnchenfleisch (kann ich nicht empfehlen!) zu ernähren. Ich würde gerne sagen, dass ich mich von dem verlockenden Essen nicht ablenken lassen und mich nur auf meine Aufgabe, dieses Camp irgendwas oder wie es auch immer hieß zu finden, doch in Wirklichkeit war es mir inzwischen ziemlich egal, was wir eigentlich tun sollten. Ich war genervt von dem ständigen Wandern, von den Blasen an den Füßen - meine Schuhe waren inzwischen auch schon ziemlich durchgelaufen -, den Nächten auf dem kalten, harten Boden. Ich hätte liebend gerne alles hingeschmissen und wäre wieder nach Hause gegangen, auch wenn ich wahrscheinlich kein Zuhause mehr hatte...
Doch ich gab nicht auf. Teils, weil ich vielleicht neugierig war, was dieses Camp Dings-blood-was-weiß-ich war, aber größtenteils, um Leo zu helfen. Ich wusste, dass sie sich Vorwürfe machte, dass sie angeblich zu schwach sei. Ich wusste aber auch, dass sie genau das Gegenteil davon war. Sie war stark, doch selbst die stärksten Menschen brechen zusammen, wenn sie etwas so Schlimmes erlebten wie Leona. Sie war es, die die Monster selbst gesehen hatte. Zwar hatte sie mir nicht genau erzählt, wie sie aussahen (Worüber ich im Nachhinein ganz froh war), aber sie hatte immer wieder gesagt, dass es schrecklich gewesen war. Bevor ich mehr aus ihr herausbekommen konnte, brach sie in laute Schluchzer aus und fiel zitternd in sich zusammen. Auch nach den ungefähr zwei Wochen, die wir schon wanderten, überfielen sie fast jede Nacht schreckliche Albträume, die sie langsam zerstörten. Sie sah erneut, wie unsere Mutter in einer Blutlache lag, schon beinahe tot. Wie sich ihre Augen blind in ihre Richtung bewegten, ohne sie zu sehen. Wie sie vor Anstrengung zitterte, als sie Leo ihre letzten Worte zuflüsterte. Geht. Dann, noch leiser: Es tut mir leid. Wie sie mit letzter Kraft Leos Hand nahm und Blut aus ihrem Mund rann. Und wie sie zuletzt ein letztes Mal ausatmete, die Augen noch immer auf meine Schwester gerichtet, und starb.
Ich war nicht dabei gewesen. Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich das nicht überstanden. Ich hätte mich vielleicht vom Dach gestoßen oder Ähnliches.
Leo tat das nicht. Sie brach nicht zusammen, sondern behielt einen kühlen Kopf, soweit das in diesem Moment ging. Sie lief zu meinem Zimmer, wo ich bewusstlos mit einer Wunde am Kopf auf meinem Bett lag. Ihr denkt jetzt vielleicht, dass ich, tollkühn, wie ich bin, auf die Monster losgegangen bin. Naja, nicht ganz. Ich bin eben nicht nur tollkühn, sondern leider auch ziemlich tollpatschig. Also war ich, bei dem Versuch, aufzustehen, mit der Stirn gegen die Fensterbank gestoßen. Wie ich das geschafft habe? Ich hab echt keine Ahnung. Aber wirklich wundern tat es mich nicht, denn mir passieren ständig irgendwelche seltsamen und unerklärbaren Sachen - von sehr seltsamen Zufällen bis zu Sachen, die ich gedacht und die dann nachher wirklich passiert waren. Ich weiß noch, wie Leo mich einmal so sehr geärgert hat - ich glaube, sie hat meine ganze Schokolade aufgegessen, und das ist wirklich unverzeilich - Dass ich mir gewünscht habe, dass ihr irgendetwas peinliches oder so passiert (Ich weiß, ich bin ein netter Bruder, aber sie hat mich eben genervt!) und am nächsten Morgen kam sie dann mit kotzgrünen Haaren und einem ziemlich wütenden Gesicht in mein Zimmer gestürmt. Natürlich beschuldigte sie mich, und meine Mom verpasste mir einen Monat Fehrnseherverbot und Hausarest und verlangte von mir, dass ich ihr verriet, womit ich ihre Haare gefärbt hatte. Ich weinte und versicherte ihr, dass ich nichts getan hatte. Meine Mom glaubte mir zwar nicht wirklich, doch dass Leos Haare am nächsten Tag wieder normal waren, entschärfte die Situation ein wenig, und kurz darauf hatten die Beiden es schon wieder halbwegs vergessen.
Plötzlich spürte ich, wie Leo ihre Hand auf meinen Arm legte. "Alles okay?", fragte sie mich besorgt. Sofort kehrte ich wieder in die Gegenwart zurück. Leo schaute mich an und versuchte, in meinem Gesicht zu lesen, was gerade in mir vorging. Normalerweise gelang es ihr ziemlich gut, doch heute wollte ich nicht, dass sie wusste, woran ich gerade dachte. Es würde zu weh tun.
"Nein, alles gut", log ich, und Leo ließ mich los, obwohl sie ganz genau wusste, dass nichts gut war. Ich atmete einmal tief ein, um mich zu beruhigen. Mein Kopf klärte sich allmählich auf und ich konnte wieder an unsere eigentliche Aufgabe denken. "Gut, lass uns gehen", sagte ich und begann langsam, den Hügel, auf dem wir standen, hinunterzugehen. Leo folgte mir in einigem Abstand. Ich merkte, dass sie eigentlich noch weiter mit mir reden wollte, doch sie sagte nichts. Deshalb liebte ich sie: Sie respektierte die Meinungen und Bedürfnisse Anderer, auch wenn sie eigentlich etwas komplett anderes meinte.
Nach einigen Minuten erreichten wir den Stadtrand. Einzelne Häuser ragten rechts und links der Straße auf. Je weiter wir gingen, desto mehr Häuser sahen wir. Als wir eine Kreuzung erreichten, gingen wir ohne uns abzusprechen beide nach rechts. Von dort kam ein Geruch, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Burger, dachte ich und ging noch einen Schritt schneller.
Das Burgerrestaurant stand am Ende eines Stadtplatzes. Anscheinend war heute Wochenende, da auf dem Platz ein Makt aufgebaut war. Stände, die Alle unterschiedliche Sachen verkauften, reihten sich aneinander und rangelten um den besten Platz.
Markttag bedeutete leider auch viele Menschen. Dies fiel mir aber erst auf, als Leo mich am Arm festhielt und auf die Masse deutete, die wie Ameisen vor uns rumwuselten. Zuerst wusste ich nicht genau, was sie mir sagen wollte. Doch dann sah ich, wie uns die Leute, die an uns vorbeigingen, sehr seltsam anschauten. Ich schaute an mir herunter und sah, was die Leute so seltsam fanden.
Meine Klamotten waren schmutzig und kaputt. Ich war ruß- und schlammverschmiert, und hatte seit fast einer Woche nicht mehr richtig geduscht. Leo sah auch nicht viel besser aus. Kurz gesagt: wir sahen aus wie Landstreicher und Obdachlose - was ja eigentlich gar nicht so falsch war. Schließlich liefen wir seit Wochen durch die Wildnis. Plötzlich fragte ich mich, ob die da unten auch Shampoo verkauften - Vielleicht ja auch mit Himbeergeruch...
Okay, ich schweife ab. Ich hab ADHS, ich kann nichts dafür!
Auf jeden Fall mussten wir, bevor wir uns dem Essen widmeten (auch wenn wir nicht wussten, wie wir ohne Geld Essen kaufen sollten), uns etwas Neues zum Anziehen besorgen.
Ich deutete auf eine kleine, von bunten Läden gesäumte Gasse. Leo nickte und zusammen liefen wir los. Wir liefen an einem Marktstand vorbei, der aus Holz gefertigte Flöten und Ähnliches verkaufte. Nichts Besonderes, würde man jetzt denken, doch trotzdem zog etwas meine Aufmerksamkeit an sich. Mein Blick schweifte über einen Jungen, der vielleicht 16 oder 17 Jahre alt war, welcher mit angstrengter Miene einen von Holz umrahmten Spiegel musterte. Im Spiegel sah es so aus, als würde er mich direkt mit seinen großen, braunen Augen anschauen. Eine Mütze bedeckte seine ebenfalls braunen Locken und er trug eine ausgebeulte Jeans. Warum ich mir das Alles einprägte? Ich weiß es gar nicht so genau, aber irgendwie hatte ich so ein seltsames Gefühl, als hätte ich ihn schon mal gesehen... Ich sprach Leo nicht darauf an, sondern lief einfach weiter.
Vom Nahen sah ich, wie heruntergekommen die Gasse eigentlich war. Die Läden waren verschlossen und die Schaufenster teilweise kaputt oder vernagelt. Weiter hinten konnte man gerade noch die Überreste eines verkohlten Hauses sehen, anscheinend abgebrannt. "Was ist denn hier passiert?", fragte Leo sehr erstaunt und sah sich mit offenem Mund um. "Ich habe keine Ahnung", antwortete ich verwirrt und mit einem seltsamen Gefühl um Bauch. Unwillkürlich ging ich auf die Ruine zu. "Was machst du da?", zischte Leo. Ich antwortete nicht, sondern ging einfach weiter, wie in Trance. "Julian!" "Alles Okay", murmelte ich, ohne wirklich zu wissen, was ich gerade tat und ohne mich umzudrehen. Ich war nur noch zwei Meter entfernt und konnte schon fast den Boden der abgebrannten Ruine sehen, als mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Mit einem schrecklichen Geschmack im Mund drehte ich mich um. "Leo!", rief ich panisch, als mir aufging, dass sie nicht mehr da stand, wo sie es gerade getan hatte. Mit aufgerissenen Augen blickte ich die Straße hinunter - und sah nichts. Leo war wie vom Erdboden verschluckt. "Le-" Plötzlich erstarb meine Stimme, als sich eine kalte Spitze in meinen Nacken bohrte. Ich erstarrte mit weit aufgerissenen Augen, unfähig, mich zu bewegen. "Das", zischte eine leise Stimme hinter mir "würde ich besser lassen"Endlich bin ich auch mal wieder dazu gekommen, diese Geschichte zu aktualisieren... dafür, dass es schon so lange her ist, ist es extralang😁 ich freue mich wie immer über begründete Kritik, Ideen oder Mitteilungen anderer Art 😉 Viel Spaß mit diesem Kapitel

DU LIEST GERADE
Die Kinder der Götter *Slow Updates*
FanfictionIn dieser Geschichte geht es um die Helden des Olymp und ggf. später auch um die Kane-Chroniken. Die Geschichte spielt nach dem Krieg gegen Gaia und dem gegen Apophis. Als die Zwillinge Julian und Leona ihre Mutter verlieren, leben sie in ständig...