1.Böse Träume

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Leona

"Mom!", rief ich in die Nacht hinein. "Mom! Julian! Hört ihr mich?"

Stille. Unerträgliche, schreckliche Stille. Plötzlich ertönte ein lauter Schrei und etwas fiel mit einem lauten Poltern zu Boden. Dann hörte ich ein Schleifen und Schritte. Laute, donnernde Schritte, die in der schrecklichen Stille der Nacht wie Kanonenschüsse klangen. Sie kamen immer näher. Ich presste mich gegen die Wand, versuchte, mich zu verstecken, doch ich konnte mich nicht bewegen. Meine Beine waren so nützlich wie Steinblöcke. Mit wild klopfenden Herzen lauschte ich, wartete auf etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Mein Blut rauschte in meinen Ohren. Ich konnte nichts hören, keinen klaren Gedanken fassen vor Angst. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Leise, nicht verständlich, und doch hörte ich es. Eine gurgelnde, schreckliche und vor allem unmenschliche Stimme. Als meine Zimmertür sich mit einem Knarren öffnete und mir schwarz vor Augen wurde, konnte ich verstehen, was die Stimme sagte. Töten! Murmelte die Stimme in meinem Kopf. Wir müssen sie töten!

Jemand schüttelte mich an der Schulter. "Leo, wach auf!", rief mir eine Stimme ins Ohr. Ich keuchte und versuchte, die Hand wegzuschlagen, die mich festhielt. "Es ist alles gut. Du hattest nur einen Alptraum! Wach auf!", versuchte mich die Stimme zu beruhigen. Nach einiger Zeit, als sich mein Atem etwas beruhigt hatte, begann ich zu schluchzen. Mein Körper wurde wie von Krämpfen geschüttelt. "Leona", versuchte die Stimme wieder, mich zu beruhigen. "Ich bin da! Du hast nur geträumt!" Langsam und immer noch schluchzend öffnete ich die Augen. Durch den dichten Tränenvorhang erkannte ich die leicht königlichen, vertrauten Züge und das blonde, zerzauste Haar meines Bruders. "Jules", brachte ich heraus und schluchzte erneut. "Hey, Kleine. Alles wird gut!" Jules drückte mich an sich. Ich schloss die Augen und gab mich einen Moment seinem vertrauten Geruch und der wohligen Wärme, die er ausstrahlte, hin. Ich konnte nicht sagen, wie lange wir so saßen, doch als Jules sich vorsichtig von mir trennte, hatte ich aufgehört zu schluchzen. Obwohl Julian und ich zweieiige Zwillinge waren, sahen wir uns sehr ähnlich. Wir hatten beide graublaue Augen und goldblonde Haare - auch wenn seine einige Nuancen dunkler waren als meine. Jules war etwa einen halben Kopf größer als ich, weshalb ich zu ihm aufgucken musste. Er musterte mich mit einem besorgten Blick, der mich sehr an meine Mom erinnerte. Meine Mom... "Sie ist tot!", brachte ich heraus und hatte wieder Tränen in den Augen. "Sie-" "Ich weiß." Jules wischte mir eine Träne von der Wange. "Ich weiß", wiederholte er leise. Julian hielt mich, während ich meinen Tränen freien Lauf ließ. Er verstand genau, weshalb ich weinte. Er teilte meine Trauer, doch im Gegensatz zu mir zeigte er sie nicht. Ich wusste, dass er es für mich tat, um mich zu stützen, doch ich schämte mich dafür. Dafür, dass er sich seiner Trauer nicht hingeben konnte - durfte - und dafür, dass ich ihm dankbar war. Leise schluchzend und immer noch von Jules gehalten glitt ich in einen unruhigen Schlaf.



Die Kinder der Götter *Slow Updates*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt