11 Jahre zuvor

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Sie war sieben, als sie ihn das erste Mal traf.

Damals waren seine Haare heller, hatten die Farbe von Milchschokolade, deren Strähnen golden in der langsam untergehenden Sonne schimmerten. Zu gerne wäre sie schon da mit ihren kleinen Händen darüber gefahren, um herauszufinden, ob sie auch tatsächlich so weich waren, wie sie aussahen. Normalerweise mochte sie es nicht von Fremden angefasst zu werden, aber er war ihr kein bisschen fremd. Als er seinen Kopf zu ihr wandte, erstarb ihre anfängliche Euphorie und das Blut gefror ihr in den Adern. Die Augen, in seinem symmetrischen Gesicht, dessen Züge unnatürlich hart für sein Alter waren, waren von einem so leuchtendem Gelb, wie sie es noch nie bei einem ihrer Artgenossen gesehen hatte. Wolfsaugen, wie ihr später klar wurde. Er musterte sie von oben bis unten. Als er ihr Gesicht betrachtete, schien er erst zu bemerken, wie unwohl sie sich fühlte und seine Augen wechselten im Bruchteil einer Sekunde zu einem schönen, sehr dunklen Braun. Er musste sein Tier sehr gut unter Kontrolle haben, um es einfach so in seinem Inneren verschwinden zu lassen. Ein zögerliches Lächeln erschien auf seinen Lippen und er lehnte sich lässig gegen den Holzzaun, der eine runde, ebene Fläche auf den Trainingsplätzen umfasste. Hier wurden Trainingskämpfe ausgeführt, in denen sich meistens die Jugendlichen, manchmal aber auch die Erwachsenen ihre Kräfte maßen. Eigentlich war sie hier hergekommen, weil sie gehofft hatte ihren Gefährten beim Training zuzusehen, doch ihn zu treffen schien auch ganz gut zu sein.

"Hey", sagte der Junge und musterte sie erneut mit schräg gelegtem Kopf, eine Körperhaltung, die er sich mit Sicherheit bei den Leoparden abgeschaut hatte. Er imitierte ihre Haltung, doch sie ließ sich nicht manipulieren oder blenden, auch wenn ihr der Junge sehr gefiel. Er wirkte ruhig und dennoch sehr energiegeladen, wie es für Jungen in seinem Alter eher selten war. Andere, so große Jungs gefielen ihr eigentlich nicht, denn sie beachteten sie nicht und prügelten sich in Bars, wenn sie zu viel Bier getrunken hatten. Doch er wirkte nicht so, als würde er jemandem weh tun oder von oben auf sie herabsehen. Sie hätte ihn sehr gerne als Freund gehabt, auch wenn er viel älter war als sie. "Hey", antwortete sie zögerlich und ging nach kurzem überlegen auf ihn zu, denn nach Hause wollte sie noch nicht. "Ich bin Rhesa, ich wohne hier." Ihre Augen suchten nach einer Regung in dem Gesicht des Jungen, doch er sah sie weiterhin nur schweigend an. Dass er jetzt braune Augen hatte, irritierte sie nicht, denn viele Gestaltwandler konnten ihre Augenfarbe wechseln, das hatte sie schon öfter gesehen. Der Junge schien zu überlegen und warf einen Blick über die Schulter. "Ich nicht, ich warte hier auf meinen Vater", sagte er nach kurzem Schweigen und deutet mit dem Kinn zu den beiden Männern, die am Waldrand standen und sich leise, aber angeregt unterhielten. Theresa hatte die beiden schon gesehen, einer von ihnen war ihr Alphatier. Sein Name war Vincent und normalerweise hatte er immer ein Grinsen im Gesicht und Süßigkeiten in der Tasche doch jetzt sahen seine grünen Augen ohne einen Funken Humor auf dem Vater des Jungen herab, woraus Rhesa schloss, dass er ziemlich sicher keine Süßigkeiten bekommen würde. Umso besser, denn dann blieb mehr für sie übrig. Rhesa legte den Kopf schräg und versuchte zu lauschen, doch die beiden Männer sprachen zu leise und waren zu weit von ihnen entfernt, als das ihr scharfes Gehör etwas von dem Gesagten verstehen konnte.

Leise seufzend wandte sie sich von ihrem Alphatier ab und musterte den großen Jungen neben ihr. Er hatte die Zähne fest aufeinander gepresst, so als hätte er irgendwo schmerzen, während er immer noch zu seinem Vater hinübersah. Er mochte ihn nicht. Sie konnte deutlich die bösen Gefühle spüren, die er für seinen Vater hegte und beschloss ihn ebenfalls nicht zu mögen. Rhesa ließ sich auf den staubigen Boden plumpsen und lehnte sich an den Holzzaun, während sie nervös mit ihren Fingern spielte. Von hier aus, sah der Junge noch größer aus, beinahe wie ein Riese. Wenn er ihr Freund werden wollte, würde er sie sicher auf dem Spielplatz vor den älteren Menschenkindern beschützen, die immer so gemein zu ihr waren. Als hätte er ihre Gedanken gehört, richtete er plötzlich den Blick wieder auf sie und ließ sich nach kurzem Zögern langsam und angespannt neben sie auf den Boden sinken. Er verzog schmerzlich das schöne Gesicht und fasste sich an den linken Rippenbogen. Ihr erster Eindruck hatte sie nicht getäuscht, er hatte Schmerzen. Voller Mitgefühl rückte Theresa etwas näher zu ihm und versuchte ihm so etwas von seinem Leid zu nehmen. So nahe an ihm konnte sie seinen Geruch ausmachen. Er roch nicht nach Leopard, aber gut, nach Wald und Seife. "Tut die Prellung sehr weh?", fragte sie, nachdem sie ihrer Gabe freien Lauf gelassen hatte und seinen Körper geistig nach Verletzungen abgetastet hatte. Seine Rippen war stark geprellt, vielleicht war er hingefallen oder hatte sich beim Kampftraining verletzt. Der schöne Junge stutzte, überlegte lange und sah sie dann mit zusammengekniffenen Augen an. Er wirkte sehr verwundert. "Du bist eine Heilerin!", traf ihn die Erkenntnis und er sah noch etwas verdutzter aus, als Rhesa eifrig nickte. Der Junge schüttelte verwirrt den Kopf. "Bist du nicht noch etwas zu jung dafür?", fragte er vorsichtig und hob die Hand, als wollte er ihr über die Wange streichen. Entrüstet hob sie das Kinn und sah ihn beleidigt an. Fest biss er sich auf die Lippe und ließ die Hand wieder fallen, obwohl sie gerne seine Wärme gespürt hätte. "Ich bin schon sieben!", beteuerte sie energisch und deutete auf sich selbst, während sie sich aufrichtete, um größer zu wirken. Der Junge lachte leise auf und verstummte augenblicklich wieder. Unsicher sah er zu seinem Vater hinüber. "Du hast recht, tut mir leid!", antwortet er dann im Flüsterton, als hätte er Angst, jemand könnte sie belauschen. Seine dunkelbraunen Augen richteten sich wieder auf sie und ihr wurde ganz warm im Bauch. "Die Prellung tut sehr weh...ich kann dir helfen, wenn du willst", bot sie ihm dann an und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen forschend an. Er zuckte leicht zusammen und wandte den Blick ab. Vielleicht war es ihm peinlich, Schwäche zu zeigen. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wider. Theresas Mentorin hatte eigentlich gesagt, sie dürfe ihre Energie nicht für Kleinigkeiten wie aufgeschürfte Knie verschwenden, auch wenn es höllisch weh tat. Es konnte nämlich immer sein, dass irgendetwas Schlimmes passierte. So wie damals als Nate von einer Gruppe Menschen angegriffen wurde. Er hatte aus den Augen geblutet und so laut geschrien und geschluchzt, dass Theresa immer noch Albträume davon hatte, wie sie mit ihren Kräften die Kugeln aus seinen jetzt Blinden Augen gezogen hatte. Sie war mit fünf zu schwach gewesen um sein Augenlicht zu retten. Aber dieser Junge war sicher eine Ausnahme, denn er war ihr Freund und sie wollte nicht, dass er Schmerzen hatte. Außerdem würde es sie nicht viel Energie kosten.

"Das musst du nicht tun Rhesa", murmelte er dann zögerlich und sie wusste, dass er wollte, dass sie ihm seine Rippe heilte. Er klang so hoffnungslos. Also rückte sie etwas näher zu ihm und versicherte sich, dass niemand sie beobachtete, denn ansonsten würde es Ärger geben. Dann bekam sie keinen Nachtisch. Vorsichtig, ohne ihm wehzutun, schob sie ihre Hand unter die offene Lederjacke, die er über einem lockeren T-Shirt trug. Normalerweise musste sie direkten Körperkontakt herstellen, Haut auf Haut, doch vielleicht mochte der Junge das ja nicht. Nach wenigen Sekunden hatte sie die Quelle seiner Schmerzen gefunden und ließ ihre Warme, heilende Energie in seinen Körper fließen. Sie konnte spüren, dass sie Atmung des Jungen ruhiger und tiefer wurde, während sie sie Prellung Schritt für Schritt heilte. Als sie aufsah, hatte er seine Augen geschlossen und lehnte sich entspannt gegen den Holzzaun und ihr wurde ganz warm. Das hatte sie schon sehr oft gesehen, bei den Rudelmitgliedern, deren Verletzungen sie verschwinden ließ und immer hatte sie sich gefreut, wenn es ihnen wider besser ging. Ihre Mutter hatte einmal mit einem schelmischen Lächeln zu ihr gesagt, dass das bei den Männern irgendwann sicher gut ankommen würde, wenn sie ihre Wehwehchen heilen konnte und anscheinend hatte sie recht gehabt. Nach zwei Minuten war die Sache mit der Rippe erledigt. Als sie nocheinmal über seine Seite fuhr, spürte sie viele kleine und große Verletzungen, in allen möglichen Heilungsstadien, über seinem ganzen Oberkörper verteilt. Fest biss sie sich auf die Lippe. So gerne hätte sie alle seine Wunden geheilt, doch die leichte Erschöpfung, die sich über sie gelegt hatte, erinnerte sie daran, ihre Kräfte zu schonen. So war es immer. Nachdem sie ihre Energie einem anderen Körper geschenkt hatte, musste sie erst selbst wieder auftanken. Etwas Essen oder ein bisschen schlafen. "Danke Kleine", murmelte der Junge, der wahrscheinlich immer noch ihre heilende Kraft spürte. Sie lächelte zufrieden, als er sie dankend ansah und beschloss ihn zu ihrer Geburtstagsparty in drei Wochen einzuladen. Für ihn würde sie die aller schönste Einladung basteln und seinen Namen würde sie so ordentlich wie möglich schreiben, obwohl sie mit dem Schreiben immer noch Schwierigkeiten hatte. Nervös kaute sie auf der Innenseite ihrer Wange und betrachtete das Profil des Jungen. Er hatte kleine Schnitte im Gesicht, die ihm aber nicht wehzutun schienen, vielleicht musste er sich ja schon rasieren. Ihr Vater tat das und wenn sich der Junge rasieren musste, war er doch kein Junge mehr, sondern schon erwachsen. Nachdenklich spitzte sie die Lippen und sah in den langsam dunkler werdenden Himmel hinauf. "Sag mal, wie heißt du?", fragte sie nach einigen Minuten Stille, im Hinblick darauf, dass sie seinen Namen für die Karte brauchte und stupste ihn vorsichtig an, sodass er die Augen wieder öffnete. "Aden", brummte er und zog mit einem noch von ihrer Energie berauschten Lächeln an einem ihrer kurzen Zöpfe. Alle anderen Mädchen mochten lange Haare, doch sie hatte ihre Mutter gebeten sie abzuschneiden. Hoffentlich mag Aden auch kurze Haare, schoss es ihr durch den Kopf. "Willst du mein Freund sein Aden?", fragte sie schnell und ihr wurde ganz warm, als sie seinen Namen aussprach. Es war ein sehr schöner Name, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er sah sie fest an. Dann nickte er entschlossen und verschränkte die Arme vor der Brust. Theresa klatschte einmal freudig in die Hände und Adens Mundwinkel zuckten. Er sah schön aus, wenn er nicht so ernst war. Gerade wollte er den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als eine wütende, eisige Stimme die Luft durchschnitt. "Aden wir gehen" Theresa zuckte zusammen und blickte in die Richtung des Mannes.

Traurig sah sie zu Aden hoch. Er war schon aufgestanden, bevor der Mann seinen Satz beendet hatte und klopfte sich hastig den Sand von der Hose. "Hat mich gefreut Rhesa. Und Danke nochmal", stieß er hervor und sie konnte einen leichten Schimmer von Angst in seinen Augen sehen. Mit eiligen, festen Schritten ging er zu seinem Vater, der am Waldrand auf ihn wartete, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.

Enttäuscht blickte sie ihm nach, in der Hoffnung er würde wiederkommen, damit sie ihm die Geburtstagseinladung überreichen konnte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 22, 2018 ⏰

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