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Da die Fahrt insgesamt 28 Stunden dauerte, hatte man für mich ein paar Kissen und eine Decke. Der Agent hatte zwischendurch mit seiner Partnerin gewechselt, die auf dem Beifahrersitz gewartet hatte. Die beiden hatten immer wieder darüber gesprochen, was in den nächsten Tagen in der Schule anstand. Irgendein Schwimmschrott, Gym und intensiv Training. Was auch immer genau das ist. Mein Name ist kaum gefallen und da ich seit fast zwei Tagen kein Auge zugemacht hatte, blieb ich einfach wach. Ich hatte es mir gemütlich gemacht, Musik über Kopfhörer angemacht und aus dem Fenster gesehen. Die Landschaft war zwar da, aber irgendwie auch nicht.

An mir zogen die Zeiten vorbei als ich umgesiedelt wurde. Jedes einzelne Mal ein neuer Ort. Ein neues Haus. Zwei neue Agents. Und das viermal. Naja, jetzt fünf Mal. Nur dieses Mal geht es ein für alle Mal aus Colorado raus. Bis jetzt waren alle Umsiedlungen immer nahe an Colorado Springs. Wirklich immer. Eben auch aus dem Grund, weil das Cedar Springs Hospital immer nahe genug war. Denn der einzige Mensch mit dem ich gesprochen habe war Dr. Clare Belle. Meine Mom. Die einzige die ich seit zehn Jahren habe. Sie hatte mich nie Therapiert. Ich bin ihre einzige fake Patientin die sie in ihrer Pause bestellt und mit ihr essen gegangen ist. Ich hatte angefangen mit ihr zu reden als ich fünf war und sie hatte zugehört. Egal worum es geht, ich kann immer auf sie vertrauen, genauso wie auf Andrew, James und Jen.

Sie hatten die Pflegschaft beantragt und auch eine Adoption, aber die war abgeblockt worden. Jahr um Jahr. Obwohl Andrew hochangesehener Richter und Clare eine hochangesehene Ärztin ist, die mehrere Kliniken Leitet und nebenbei auch noch weiter als Psychologin arbeitet. James und Jen sind perfekt. Auch wenn ich es nicht fassen konnte, aber wir fünf sind einfach wie eine richtige Familie. Auch wenn wir das nicht einmal auf dem Papier sind.

„Miss Rachel, wir sind gleich da. Hier ist noch die Kirche und der beste Eisladen", erzählte die Agentin, aber ich sah einfach nur weiter aus dem Fenster. Der Weg zum Akademiegelände war von Wald umgeben. Eine ganz nette Allee. Vielleicht etwas zu lang, aber das passt schon. Eine hohe Mauer. Ein riesiges Tor. Es wurde geöffnet und wir fuhren durch. Gelangweilt sah ich nach draußen. Das Gelände sah nach einem überdimensionalen Garten slash „Trainingsraum" aus. Wie in den alten Geschichten die man mir erzählt hatte. Das Akademiegebäude sieht aus wie ein Schloss. Wirklich ganz nett. Aber ich hab trotzdem keinen Bock hier drauf. Jetzt sind es nicht mehr nur zwei Menschen, sondern gleich hunderte Jugendliche die in Gefahr sind. Wegen mir.

Das Auto hielt an. Yeah.

Meine Gefühle? Welche Gefühle? Ich sah einfach nur das Gebäude an. Der Agent öffnete mir die Tür. „Kommen Sie mit", er war schroff und schien auf eine Antwort oder eine danke zu warten, aber ich schwieg einfach. Erst als ich meine Tasche aus dem Kofferraum über der Schulter hatte, folgte ich den beiden Agenten ins Haus. Die Agentin, Jenny Monroe, begann zu erklären was es auf dem Gelände gibt, aber ich hörte es nur ganz dumpf.

Ich erinnere mich an Clare, wie sie mich daran erinnert, dass ich nicht alleine bin. Rachel, hat sie gesagt, vergiss niemals, dass wir hier sind. Wir werden immer da sein, denn wir sind Familie.

Wir hatten damals auf dem Boden gesessen in einer Buchhandlung und hatten uns einfach Kinderbücher angesehen. Auch wenn ich mir Medizinwelzer rausgesucht hatte, hatte Jen mir versichert, das die Kinderbücher viel cooler sind. Natürlich hatte sie recht. Ich war ja auch erst sieben gewesen.

Egal, wir sind in den ersten Stock. Das waren echt viel mehr Treppenstufen als ich erwartet hatte. Es war nicht weit bis zum Direktorenbüro. Die beiden klopften und machten mir die Tür auf. Sie ließen mich nur eintreten und schlossen dann die Tür. Sie waren nicht einmal mit reingekommen. Ich starrte an die Wand. Auszeichnungen der Akademie, der dreibuchstaben Vereine und so weiter und sofort. Ich stand völlig verloren in diesem Büro. Ein Büro in dem ich gar nicht seien wollte.

„Schieß doch!", schallte meine innere Stimme in meinem Kopf. Ich konnte das Blut auf meinem Gesicht spüren. Es fühlt sich so verdammt real an. Plötzlich steh ich wieder an der Terrassentür und starre in den Raum. Ich sehe die Menschen fallen. Und alle fallen sie nur, weil sie mich kennen. Ich bin der Grund und es ist nur meine Schuld. Ich kann fühlen, dass ich keine Kraft mehr hab. Aber schlafen würde bedeuten, dass ich meine Augen zu machen muss und das kommt gar nicht in Frage. Die Tür zu meiner Rechten schwingt auf.

Eine Frau kam auf mich zu. Sie wirkt ziemlich so um die Mitte ende dreißig. Hell braunes Haar. Blaue Augen. Warum auch immer, sie hat ein warmes auftreten. Also eben dieses mütterliche. Ist wahrscheinlich einfach ihre Art. Sie setzte sich hinter ihren Tisch und sah mich direkt an. Mit so unglaublich viel Wärme in ihrer Stimme bat sie: „Setz dich Rachel." Natürlich kannte sie meinen Namen. Statt mich zusetzen, sah ich sie einfach an. Sie stand nicht auf, sondern blieb einfach ruhig sitzen. „Rachel, mein Name ist Susann Warren, ich bin die Direktorin dieser Schule...", die Wärme in ihrer Stimme war immer noch da. Aber ich verlor mich in meine Erinnerungen, hört ihr gar nicht richtig zu.

Ich wurde an meinem Arm berührt und sah direkt in die Augen der Direktorin. „Rachel, wir können uns auch später noch unterhalten. Ich zeige dir jetzt erst einmal dein Zimmer", Susann ließ meinen Oberarm nicht los. Wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass ich nicht umkippe. Wie gesagt, ich hab seit Tagen nicht richtig beziehungsweise gar nicht geschlafen. Nichts worauf ich stolz sein könnte, aber das passt schon irgendwie. Wir gingen zurück in die Eingangshalle und dann auf der anderen Seite direkt wieder hoch. Einen langen Gang entlang, an vielen Türen vorbei. Bis ganz ans Ende und dann eine Minitreppe hoch, nur vier Stufen. Da war nur eine einzige Tür.

Susann öffnete die Tür und schob mich vor sich hinein. Natürlich war es kein Einzelzimmer. Drei Mädchen sahen mich fasziniert an. Susann schloss die Tür und ließ endlich meinen Arm los. „Rachel, das sind Bailey, Naomi und Elle. Ihr teilt euch dieses Zimmer. Die drei werden dir alles zeigen. Lasst euch Zeit und kommt pünktlich zum Abendessen. Rachel, wenn du mich brauchst, dann weißt du wo mein Büro ist", ich antwortete ihr nicht, nickte nicht einmal, aber sie schien zu wissen, dass ich ihr wirklich zugehört hatte. Keine von uns rührte sich bis die Tür geschlossen war.

„Okay Rachel, das Bett da drüben ist noch frei. Ehm, hast du nur die Tasche?", fragte Naomi mit einem Lächeln und ich antwortete nur: „Nur die Tasche." Normalerweise hätte ich gar nichts gesagt, aber irgendwie... Ach keine Ahnung. Das hier ist einfach anders. „Alles klar, du könntest so ungefähr unsere Größen haben, wir schauen einfach mal, ob dir was von uns passt", Elle musterte mich prüfend. Offensichtlich starrten mich alle drei an. Bailey löste sich als erste aus ihrer Starre: „Also meine Klamotten kannst du vergessen. Die Hose würde vielleicht bis zu deinem Knie gehen." Ich musste lachen. Sie war ziemlich kurz für unser Alter aber sie schien es mit Humor zu nehmen. „Also, du solltest wissen, dass wir das Außenseiter Zimmer sind. Bailey ist die Tochter des Gouverneurs, Nay's Eltern arbeiten bei der NASA und meine sind bei der Navy. Keiner von uns hat Eltern die Agenten sind oder für die Agency irgendwas anderes tun", erklärte Elle mir.

Das einzige was ich darauf erwidern konnte war: „Dann gehör ich ja hier rein." Die drei sahen sich komisch an. „Dann bist du gar nicht Rachel Haze? Ich meine Die Tochter der großen Remington Haze?" „Doch", erwiderte ich kühl. Keine von ihnen fragte nach oder machte einen Kommentar dazu. Es dauerte einen Moment, bevor sie sich wieder trauten etwas zu sagen. Naomi fand als erste ihre Stimme wider: „Also, es ist nicht so, dass wir dich nicht hier haben wollen, aber die anderen hassen uns eh schon, deswegen verstehen wir einfach nicht, warum Warren dich hier reingesteckt hat." „Das sollte jetzt nicht mies rüberkommen, aber für die anderen bist du ein Star. In ihrer Welt bist du ein A-Promi", erklärte mir Ellen und ich stellte einfach meine Tasche auf dem Bett ab. Ich nahm meine Hände hoch und fuhr mir durch die Haare, nahm sie zusammen und strich noch ein paar beulen raus. Dann band ich sie zusammen zu einem Pferdeschwanz.

Ich hörte wie die drei geräuschvoll Luft einsogen. „Was? Sitzt der Zopf nicht? Hab ich immer noch Beulen?", fragte ich und drehte mich zu ihnen um. Bailey meinte erstaunt und begeistert und auch irgendwie geflasht: „Du machst dir deinen Zopf so wie die Warren."

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